Aschenpummel (German Edition)

chapter 10


Zwei Stunden, drei Kaffees und ein Erdbeereis später läutete ich bei Mama. Fünf Minuten danach saßen wir im Fiat und waren auf dem Weg zum Kahlenberg.

»Du schwitzt, Thaddäa. Und du weißt auch, warum du schwitzt, nicht wahr, Thaddäa? Zehn Kilo weniger, vielleicht auch zwanzig oder dreißig, und du würdest nicht mehr so schwitzen. Ich meine es nur gut mit dir. Wie viel wiegst du mittlerweile? Neunundsiebzig Kilogramm?«

Ich zuckte zusammen, so treffend war ihre Schätzung.

»In deinem Alter habe ich achtundvierzig Kilogramm gewogen. Genauso wenig wie mit zwanzig und genauso wenig wie jetzt.« Sie fuhr mit dem Zeigefinger über das Armaturenbrett und betrachtete ihn anschließend prüfend. Mein Auto war das bestgeputzte der Stadt, Mama bestand schließlich auf penibelste Sauberkeit. Trotzdem sagte sie: »Das Auto ist auch dreckig.«

Ich starrte auf die Straße, konnte Mama höchstens aus dem Augenwinkel sehen, bekam ihren kummervollen Blick jedoch intuitiv mit.

»Es ist nur zu deinem Besten, wenn ich dich ans Abnehmen erinnere. Schließlich willst du doch auch einmal einen Mann abkriegen, oder?«

»Mama …«

»Mama hat es nicht leicht mit dir, Thaddäa.«

»Ja, Mama.«

»Tirza habe ich auf die Universität geschickt, sie ist ja die Kluge. Du solltest mir Enkelkinder schenken, Thaddäa. Weißt du eigentlich, wie sehr ich mich nach Enkelkindern sehne? Wie gut deiner Mama ein bisschen Leben in ihrem Umfeld tun würde? So schwach wie mein Herz in letzter Zeit ist, habe ich keine Ahnung, wie lange ich euch noch mit meiner Gesellschaft auf Erden erfreuen kann. Da gibt es keine Zeit zu verlieren. Nicht auszudenken, wenn deine Kinder ihre liebe Oma nicht mehr kennenlernen dürften.«

»Mama …«, sagte ich und ärgerte mich darüber, dass meine Stimme belegt klang.

»Freilich ist es ein Jammer, ein großer Jammer, dass Tirza allein auch noch alle Schönheit abbekommen hat. Was für eine Verschwendung, wo sie doch klug genug ist, um Karriere zu machen.« Meine Mutter beugte sich zu mir, ihr Ton wurde vertraulich, ich hasste das. »Die Männer steigen gerne zu deiner Schwester ins Bett. Es würde deine Schwester keine Mühe kosten, mir zehn Enkel zu schenken. Von zehn verschiedenen Männern.«

Meine Unterlippe zitterte. »Das weiß ich doch alles, Mama.«

»Wenn du etwas aus dir machen würdest, viel aus dir machen würdest, dann könnte es durchaus sein, dass auch du einen – Herrgott, wir brauchen doch nur einen einzigen – Mann abbekommst.« Bedauernd fügte sie hinzu: »Auch wenn Tirza mir natürlich die schöneren Enkel schenken würde. Und die klügeren.«

In dem Moment fing der Fiat an zu stottern. Ich trat auf das Gaspedal, was das Zeug hielt. Dennoch wurde das Auto immer langsamer.

»Thaddäääaaa«, kam es drohend von rechts.

»Ich weiß auch nicht, was mit ihm los ist«, jammerte ich und trat weiter. Kurz bevor wir stehen blieben, fing sich der Fiat und nahm wieder Fahrt auf. Vor Erleichterung standen Tränen in meinen Augen. Meine Mutter schnauzte los: »Du warst also nicht in der Werkstatt mit ihm, so wie ich es dir gesagt habe!«

»Doch, doch, Mama, natürlich, die haben am Motor herumgeschraubt und haben gesagt, dass alles wieder gut ist. Wirklich, Mama –« Jetzt heulte ich.

»Nicht weinen, mein Mädchen. Mama ist ja da«, wisperte sie und strich mir über den Arm. Ich schluchzte auf. Am liebsten hätte ich mich wie ein kleines Kätzchen auf dem Schoß meiner Mutter zusammengerollt. Einfach nur getröstet werden. Doch ich musste ja fahren, durfte nie wieder stehen bleiben, denn es war äußerst fraglich, ob der Fiat sich jemals wieder dazu überreden ließ, aus dem Stand loszufahren. Aber wenigstens wirkte Mama besänftigt, ja richtig liebevoll. Ich warf ihr einen dankbaren Blick zu.

»Männer mögen keine verheulten Frauen, Thaddäa.«

»Ich weiß.«

»Schon als Kind hast du ständig einen Grund gefunden, Rotz und Wasser zu heulen. Tissi hat dich natürlich deswegen gehänselt. Und was hast du getan? Wieder geheult.«

Meine Nase begann zu kitzeln, ich musste niesen.

»Mal wieder mit dem Charme eines Trompetenkäfers«, ätzte Mama, während ich verzweifelt bemüht war, die Spur zu halten.

»Manchmal wünsche ich mir, sie würden kommen und mir erzählen, dass du im Krankenhaus vertauscht worden bist. Manchmal kann es einfach nicht sein, dass du meine Tochter bist.«

Meine Kehle war trocken, ich schluckte hart. Wieder strich Mama mir über den Arm. »Na, na, nicht weinen, Kind. Mama hat ihre beiden Mädchen gleich lieb.«

Prompt musste ich wieder aufschluchzen. Aus dem Augenwinkel sah ich meine Mutter den Kopf schütteln. Sie seufzte. »Ach herrje, auch wenn es jeder anderen Mutter leichter fallen würde, Tirza lieb zu haben.«

Wir fuhren den schmalen Feldweg entlang bis zur Blockhütte. Wie jedes Mal stand der blaue Nissan neben dem Haus. Wie jedes Mal stieg Mama mit den Worten aus: »Du bleibst im Auto sitzen und rührst dich nicht von der Stelle.« Wie jedes Mal verschwand sie gleich darauf in der Blockhütte und wie jedes Mal tat ich wie geheißen und blieb im Auto sitzen.

Während der nächsten Stunde musste ich einsehen, dass ich von meinem Vorhaben, das Leben von einer völlig neuen Seite anzugehen, bisher nicht viel umgesetzt hatte. Aber morgen war ja Montag, neue Woche, neues Glück, und da würde ich beginnen.

Doch nein! Nein, nein, nein, nicht morgen, verdammt noch mal, Teddy, heute! Jetzt! Gleich!

Aber wie, um Himmels willen? Den größten Schnitt zu meinem bisherigen Leben würde ich freilich begehen, indem ich jetzt einfach wegfuhr. Aber, ach, ich wusste auch nicht warum, aber ich wollte ihr nicht wehtun. Meine Mutter hatte ja niemanden außer mir. Ja, jetzt schwärmte sie von Tissi, ihrer vortrefflichen Erstgeborenen. Aber Tissi kümmerte sich kaum um sie. Arme Mama. Schon mal ein guter Grund, um nicht einfach wegzufahren. Und vielleicht war auch ein bisschen Feigheit mit dabei.

Ich starrte durch die Windschutzscheibe auf die Hütte. Seit sechs Jahren sah ich Mama jeden Sonntag dabei zu, wie sie die kleine Holztreppe hinaufging und, ohne einen Schlüssel zu benötigen, die Tür öffnete und nach drinnen verschwand. Immer, immer siegte meine Erleichterung darüber, sie zwischen den Autofahrten los zu sein, über die Neugierde.

Gefragt hatte ich sie nur ein einziges Mal, was es mit all dem auf sich hat. Das war beim allerersten Mal, am allerersten Sonntag gewesen. Von ihrem darauf folgenden Wutanfall haben mir noch zwei Wochen später die Ohren geklingelt.

Außerdem war ich die ersten Monate sowieso viel mehr damit beschäftigt gewesen, auf alle Verkehrszeichen doppelt und dreifach zu achten, den Wagen unter Kontrolle zu halten und hinter jedem Busch einen Polizisten zu vermuten.

Ich war sechsundzwanzig, als Mama mir erklärte, dass ich endlich den Führerschein machen und mir ein Auto zulegen müsse. Sie meinte, heutzutage sollte jede moderne junge Frau einen fahrbaren Untersatz haben. Ich gebe zu, dass mich das ziemlich überraschte. Meine Mutter war sonst so gar nicht von den neuen Zeiten angetan. Aber natürlich gefiel mir der Gedanke schon, eine megacoole Autofahrerin zu werden. Mit Sonnenbrille auf der Nase und Zigarette in der Hand.

Ich kaufte also eine Zeitung und schaute mir Autoinserate an. Der Führerschein mit allem Drum und Dran hätte damals etwa tausendfünfhundert Euro gekostet. Und ein gebrauchtes Auto, auf das man sich halbwegs verlassen konnte, mindestens dasselbe.

Ich hatte keine dreitausend Euro und wusste außerdem, dass ich den Führerschein nie schaffen würde. Prüfungsangst, darum hatte ich ja mit sechzehn die Schule abgebrochen.

Und außerdem war da die Sache mit der Kupplung und der Gangschaltung. Als Tissi und ich noch beide bei Mama wohnten, hatte mich mal einer ihrer Verehrer hinter sein Lenkrad gelassen. Er meinte, ich dürfe ein bisschen mit dem Zündschlüssel spielen, während er meiner Schwester die Unterbodenschmierung zeigt, oder so ähnlich. Ich startete den Motor und legte einen Gang ein. Das Geräusch ließ einem das Blut in den Adern gefrieren. Das lag daran, dass ich vergessen hatte, die Kupplung zu treten, und das dürfe man nie! nie! nie! vergessen, wie Tissis Verehrer mir hinterher mit Gebrüll einimpfte. Tissi sprach zwei Monate lang kein Wort mit mir.

Für mich kam also nur ein Automatikauto infrage. Ich fand eines um zweitausend Euro, Baujahr zweiundachtzig, hundertdreißigtausend Kilometer drauf. Das war viel, ich kaufte es aber trotzdem, es war genau der Betrag, den ich aufbringen konnte. Die hundertfünfzig Euro für die Anmeldung stahl ich Mama aus ihrer Wäschelade. Anfangs habe ich mich auch geschämt dafür. Als ich aber draufgekommen bin, dass das ganze Autofahren nur Stress bedeutete und mir null Spaß machte und ich – selbst wenn ich Raucherin wäre – es nie schaffen würde, mit einer Zigarette in der Hand zu fahren, habe ich mich nicht mehr geschämt. Denn ich benutzte den Fiat für nichts anderes, als Mama auf ihren Sonntagsausflug und wieder zurückzubringen.


Mist, drei Tassen Kaffee waren eindeutig zu viel, wenn man danach stundenlang nicht aufs Klo konnte. Ich spähte aus sämtlichen Fenstern in alle Richtungen. Hinter mir war der Feldweg, vor mir die Hütte, links und rechts Büsche und Bäume. Vorsichtig schnallte ich mich ab, dann öffnete ich im Zeitlupentempo die Autotür. Die Hüttentür ließ ich währenddessen nicht aus den Augen. Auch nicht die Fenster, doch das war eigentlich unnötig, ich hatte die Fensterläden noch nie geöffnet gesehen.

Ich rutschte vom Sitz und ließ mich aus dem Auto auf die Wiese gleiten, actionfilmreif. Dort blieb ich eine Minute lang auf dem Hintern sitzen, mit zugedrückten Augen, jede Sekunde das Donnerwetter erwartend. Alles blieb still, nur die Vögel zwitscherten. Ich kam mir vor wie Bruce Willis, als ich über Gras und Erde kroch, halb auf den Knien, halb auf dem Bauch. Die Angst vorm Erwischtwerden war plötzlich übermächtig, ich richtete mich ein wenig auf und hechtete ins erstbeste Gebüsch. Es dauerte sicher eine Viertelstunde, bis ich endlich locker genug war, um pinkeln zu können. Wäre Bruce Willis wohl nicht passiert.

Ich zog die Hose hoch und wartete. Kam vielleicht doch noch ein Donnerwetter? Kaum zu glauben, dass Mama nichts bemerkt hatte. Ein bisschen Neugierde kroch jetzt trotz der Aufregung in mir hoch; was war dort in der Hütte, das meine Mutter derart ablenkte? Wahrscheinlich ein Mensch, oder? Jemand, den sie seit sechs Jahren besuchte und von dem niemand wissen durfte. Mama hatte mir am allerersten dieser Sonntage verboten, mit irgendjemandem darüber zu reden, vor allem nicht mit Tissi.

Anfangs war ich richtig stolz darauf gewesen, als Einzige in ihr Geheimnis eingeweiht zu sein. Obwohl ich ja streng genommen ganz und gar nicht eingeweiht war. Irgendwann hat der Stolz sich verflüchtigt, doch auch dann habe ich Wort gehalten und niemandem etwas verraten. Und auch Mama nicht mehr mit Fragen genervt. Überhaupt ging ich einer Konversation mit meiner Mutter am liebsten aus dem Weg.

Ich ging nicht zurück zum Auto, sondern kroch in den Büschen ums Haus herum, bis ich an der Rückseite angelangt war. Auch hier waren die Fensterläden verschlossen. Bei jeder anderen Frau hätte ich gedacht, dass sie eine Affäre hatte. Aber Mama hatte so was nicht, das wusste ich ganz genau. Mama fand Männer schlicht dumm. Sie meinte immer, sie könnte einen Mann höchstens noch dazu gebrauchen, um ihr Enkelkinder zu zeugen. Aber das kriegten ja weder ich noch Tissi auf die Reihe.

Ich wagte mich aus dem Gebüsch hervor, schlich gebückt zur Hütte und legte schließlich mein Ohr an das Holz. Nichts. Entweder war die Hütte absolut schalldicht oder die Menschen darin vollkommen ruhig. Vielleicht hielten sie irgendeine geheime Messe ab? Satansbeschwörung oder so, aber nein, Mama hatte Angst vor dem Teufel. Stimmte das überhaupt? Hatte meine Mutter überhaupt vor irgendetwas Angst? Oder war sie der Teufel selbst und wurde hier drin von ihren Anhängern gefeiert?

Ich stürzte zurück ins Gebüsch, rannte um die Hütte herum zu meinem Auto und kroch so schnell hinein, dass ich mir den Kopf am Lenkrad stieß. Ich schmiss die Tür zu, schnallte mich an, saß dann kerzengerade auf dem Sitz und wartete auf Mama. Mein Herz klopfte wie verrückt, und plötzlich wurde ich von dem Gefühl überwältigt, das dümmste und feigste Wesen auf Erden zu sein.

Und etwas wurde mir schlagartig klar: Die Tatsache, dass ich mich bisher nicht um den Inhalt der Hütte geschert hatte, hatte weniger was mit Desinteresse zu tun als vielmehr mit der Furcht, etwas wirklich Schlimmes darin zu entdecken, etwas, das meine Welt für immer auf den Kopf stellen würde.

Ja, aber warum denn nicht, Teddy, dann steht die Welt halt auf dem Kopf! Macht doch nichts! Wuuuurscht!

Die Hüttentür öffnete sich und Mama trat hinaus. Ich starrte sie gebannt an. Sie sah genauso aus wie vorher. Mit ihrem grauen Rock und ihrer glänzenden lila Bluse mit der lila Schleife, die um den Hals gebunden war. Sie sah tadellos aus, in keinster Weise so, als hätte sie gerade eine Orgie oder Ähnliches gefeiert.

»Mama …«, begann ich, als sie einstieg.

»Rede nicht, fahr los!«

Gehorsam drehte ich den Schlüssel. Der Motor sprang an, erstarb jedoch, bevor ich die Automatik auf R stellen konnte.

»Thaddäääaaa …«

Ich drehte den Schlüssel noch mal, diesmal rührte sich gleich gar nichts.

»Thaddäa!«

»Ja, Mama! Was soll ich denn tun –?« Ich klang wie ein quiekendes Schwein.

»Thaddäa, fahr endlich!«, schrie meine Mutter mich an. Ich malträtierte das Zündschloss bis zum Gehtnichtmehr. Meine Hände zitterten, der Scheibenwischer ging an. Mama packte mit beiden Händen das Lenkrad und riss es in ihre Richtung, was zur Folge hatte, dass das Lenkradschloss einrastete. Mein Hirn spulte sämtliche Kettensägemassakerstreifen und sonstige Schocker ab, in denen ein fehlender Zündschlüssel, durchdrehende Reifen oder simpler Benzinmangel die rettende Flucht verhinderten. Ein Schweißtropfen lief mir ins linke Auge, während ich verzweifelt versuchte, Mamas Hände vom Lenkrad zu lösen. Artikulieren konnte ich mich längst nicht mehr. Mama schrie. Automatisch flog mein Blick zur Hütte, da, die Tür bewegte sich, jetzt schrie auch ich.

»Fahr, Thaddäa!«

Ich kniff die Augen zu und drehte ein letztes Mal am Schlüssel. Der Fiat tuckerte an. Das Überraschungsmoment nutzend, stieß ich meiner Mutter den Ellbogen in die Seite, woraufhin sie endlich das Lenkrad losließ. Ich löste die Lenkradsperre, und wir rasten im Rückwärtsgang den Feldweg entlang, mit quietschenden Reifen schossen wir auf die Straße hinaus. Meine Mutter griff sich ans Herz. »Elendiger –«, stöhnte sie mit erstickter Stimme. »Ich sterbe, ich sterbe –«

»Mama …«

»Ich sterbe … mein Herz …«

»Ich ruf die Rettung!«

»Nein! Willst du mich umbringen? Gott, der Herr, versteht mich denn niemand? Bring mich einfach nach Hause!«

»Ja … Mama.«


An diesem Abend kam Punkt 6 auf meine To-do-Liste:

Finde endlich heraus, was in der Hütte ist!

Danach schob ich mir eine Lasagne in die Mikrowelle und schnitt mir die Haare.

Letzteres war keine gute Idee gewesen. Ich sah aus wie Prinz Eisenherz.

Ich ergänzte meine Liste um Punkt 7:

Geh zum Friseur!


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