Aschenpummel (German Edition)

chapter 8


Er stieg die kleine Stufe hinunter und blieb mit dem Rücken zu mir an seinem Schreibtisch stehen. Ich stand mit offenem Mund auf dem Gehsteig und BE-DEs Worte dröhnten in meinem Inneren: »Wer eine Maske trägt, der hat was zu verbergen.« Das war es, oder? Aus irgendeinem Grund hatte der Pirat sich entschlossen, eine Maske zu tragen. Leute wie Bonnie-Denise konnten das natürlich nicht verstehen. Aber ich! Ich, du dummer Pirat, ich verstand das natürlich! Es war ein Schutz. Eine Art Festung zwischen der leisen, sensiblen Seele des Piraten und der lauten, schmutzigen Welt da draußen mit all ihren einschüchternden Bodybuildern, Barkeepern und schwarzhaarigen Schönheiten. Mein Gott, ich hätte auf der Stelle auch eine Augenklappe genommen, wenn ich die saublöde Brille nicht gebraucht hätte, aber nein, ich vertrug natürlich keine Kontaktlinsen!

»Kommen Sie doch herein, Frau Kis.«

In dem grellen Licht, das so einen starken Kontrast zu der Dunkelheit auf der Straße bildete, sah er sehr dünn aus, fast zerbrechlich. Und sein Lächeln wirkte müde. Plötzlich wollte ich nur noch eines: ihn aufheitern. Ich trat die Stufe hinunter und schloss die Tür hinter mir. »Sie haben so ein schönes Geschäft, Herr Nemeth. Wirklich, es ist das prächtigste Buchgeschäft, das ich kenne.«

Wie auf Kommando sahen wir uns in dem bescheidenen Raum um, bei dessen Anblick einem »prächtig« nicht unbedingt als Erstes in den Sinn kam. Umso vehementer bekräftigte ich: »Es ist prächtig, wahrhaft prächtig.«

Der Pirat lehnte am Schreibtisch. »Sie mögen Bücher sehr, nicht wahr?«

»Am allermeisten von allen Dingen auf der ganzen, weiten Welt«, beschwor ich, fest davon überzeugt, dass die Tristesse des Piraten nur durch Superlative zu heilen war.

Er stieß sich vom Schreibtisch ab und begann, das vordere Regal abzugehen. Ich fingerte an dem Drehständer, den ich gestern beinahe umgeschmissen hätte, und meine Gedanken drehten sich im Kreis, genau wie das Bücherkarussell. Er liebt mich, er liebt mich nicht, er liebt mich, er liebt mich nicht … dummes Ding, dich hat noch nie ein Mann geliebt, also wohl nicht … aber er ist so anders als alle anderen, also vielleicht doch … aber er ist und bleibt ein Mann, also nicht … und wenn er aber schwul ist, dann vielleicht doch, dann bringt es aber nichts …

»Da haben wir sie.«

»Häh?« Gott, Teddy, »häh« wäre jetzt aber nicht nötig gewesen, oder?

»Jane Eyre. Hier ist sie.«

»Oh, ja natürlich, das ist wunderbar, ich hab nämlich noch keine, nur mal aus der Bibliothek ausgeborgt …«

»Dann haben Sie die andere Ausgabe wohl hergeschenkt?«

Ich wurde rot. So ein Mist, natürlich, ich hatte schon eine, das war aber Ewigkeiten her, dass ich die beim Piraten gekauft hatte, das musste an einem der allerersten Tage gewesen sein.

»Sie haben sie gekauft, als Sie das zweite Mal hier waren. Am ersten Tag waren es Die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Und am dritten Tag haben Sie Anne auf Green Gables genommen –«

» – und am vierten«, flüsterte ich, »Anne von Avonlea. Und am fünften Anne in Kingsport. Und am sechsten das Guinness Buch der Rekorde 1986 …« Danach brachte ich kein Wort mehr raus. Mein Gott, ich war wichtig für ihn. Er liebte mich.

Er sagte: »Wundern Sie sich bitte nicht, dass ich mich so gut erinnern kann. Ich fürchte, Bücher sind meine einzige Leidenschaft. Ich habe alle Verkäufe der letzten vier Monate im Kopf.«

Der Mann war der Romantikkiller Nummer eins. »Sie sollten bei Wetten dass … auftreten«, presste ich hervor.

Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht mache ich das irgendwann.« Er klang allerdings nicht sehr motiviert.

Eine unangenehme Pause entstand, und nachdem ich den Ständer acht weitere Runden gedreht hatte, macht ich eine Verlegenheitsbemerkung. Eine, die Buchhändler wohl des Öfteren zu hören bekommen. »Und?«, fragte ich, »haben Sie alle Bücher hier drin gelesen?«

Doch der Pirat nahm die Frage ernst, freute sich sogar darüber. »O ja«, sagte er. »Ich versuche, jedes Buch, das ich ins Regal stelle, auch selber zu lesen. Sehen Sie, gerade lese ich dieses hier, über Insekten.« Plötzlich sah er mich nachdenklich an.

»Hmm, wahrscheinlich wird Sie das weniger interessieren …«

»Nein, wieso?«, rief ich. Es gefiel mir gar nicht, dass er mich für so ein typisches Frauenzimmer hielt, das bei jeder kleinen Spinne loskreischte.

»Ich liebe Insekten, Spinnen, Ameisen, Fliegen … alles.«

»Dann ist das hier genau das Richtige für Sie. Es sind großartige Aufnahmen drin. Schauen Sie mal, das hier ist ein Nashornkäfer. Der kann bis zu fünf Zentimeter lang werden.«

»Oh«, staunte ich und bemühte mich, nicht allzu genau hinzusehen, ich habe sowieso die Tendenz, von allen möglichen Krabblern zu träumen.

»Und hier, das ist besonders faszinierend, eine Nashornkäferlarve. Wissen Sie, wie groß die werden kann?«

Ich starrte auf das raupenförmige, durchsichtige Etwas und versuchte, mir nicht vorzustellen, wie das Ding sich durch meinen Mund schlängelte.

»Zwölf Zentimeter! Können Sie sich das vorstellen?«

Das konnte ich viel zu gut. Ich presste die Lippen aufeinander.

»Gigantisch«, quetschte ich hervor, und um zu zeigen, dass ich mitdachte, quetschte ich weiter: »Das ist ja sieben Zentimeter größer als der Käfer selbst.« Es juckte mich überall, und als der Pirat mir ein weiteres »faszinierendes Exemplar«, nämlich eine Blauzahnvogelspinne in Din-A4-Größe, zeigte, spürte ich ein deutliches Kraxeln und blickte auf meinen rechten Unterarm. Vor Schreck kreischte ich auf. Der Pirat sah mich erstaunt an. Ich starrte auf die Blauzahnvogelspinne im Buch, spürte wieder das Kraxeln auf meinem Unterarm und kreischte weiter. »O Gott, bitte, bitte, bitte, bitte … machen Sie das weg! Ich bin allergisch auf Marienkäfer, bitte!«

Behutsam nahm der Pirat den kleinen Käfer von meinem Arm und brachte ihn vor die Tür. Ich hätte mich am liebsten selbst aufgefressen, so wütend war ich auf mich. Gut, vielleicht war ich nicht der Welt größter Insektenfreund, aber vor einem Marienkäfer hatte ich wirklich keine Angst. Ich mochte sie sogar. Aber dieses viele Krabbelgetier in dem Buch hatte mir doch zu schaffen gemacht, und die kleinen Marienkäferfüßchen auf meiner Haut hatten mir den Rest gegeben.

Der Pirat kam zurück. Ich versuchte zu retten, was zu retten war. »Ich – diese Allergie … sie liegt bei uns in der Familie, seit Generationen und Generationen … schade, so schade, weil sie ja so süß sind, die Marienkäfer, aber drum meinte ich eben … Spinnen, Fliegen, alles super, nur eben keine Marienkäfer … wegen der Allergie …«

Er sah mich lange mit diesem neuen Auge an. Ich glaube, so lange hatte er mich überhaupt noch nie angesehen, ich traute mich kaum zu atmen, wartete auf den Todesstoß. Marienkäferallergie, um Gottes willen, das war das Erbärmlichste, das die Welt je gehört hatte.

Da sagte er: »Wissen Sie, was ich sehr schön finde?«

Wie gerne hätte ich »Ja« darauf gesagt, schließlich wünschte ich mir doch, dass er an unsere Seelenverwandtschaft genauso glaubte wie ich, und da käme so ein »Ja, ich weiß immer, was in dir vorgeht« gerade recht. Gott sei Dank war ich klug – oder feige – genug, trotzdem den Kopf zu schütteln.

Der Pirat schlug das Insektenbuch zu und legte es in seine Schreibtischschublade. Die Tätigkeit schien ihn vollkommen in Anspruch zu nehmen, und ohne aufzublicken sagte er: »Obwohl Sie so eine große Angst hatten, wahrscheinlich sogar Todesangst, haben Sie den Marienkäfer nicht einfach erschlagen.« Jetzt sah er auf. »Das finde ich sehr schön.«

Ich lächelte. Mit gesenktem Blick, sanft, bescheiden und tierlieb. Nach der peinlichen Geschichte eben konnte ich jeden Bonuspunkt gebrauchen, es wäre also sehr blöd von mir gewesen, ihn darauf hinzuweisen, dass ein Draufschlagen auf den Marienkäfer zusätzlichen Körperkontakt bedeutet hätte, den ich ja so dringend hatte vermeiden wollen. Außerdem tötet man niemanden, aus Prinzip nicht. Höchstens ich mich selbst, dachte ich in einem gewagten Anfall von zurückkehrender Melodramatik.

Die Pause dauerte schon wieder zu lange, also fragte ich zaghaft: »Haben Sie hier ein Klo?« Ich musste wirklich und das plötzlich ziemlich dringend.

Der Pirat nickte und deutete auf eine Tür hinter dem Schreibtisch. Er öffnete sie und ging mir voran in ein winziges Zimmer, in dem ein rostiger Eisentisch stand. Nichts weiter. Auf dem Tisch lag eine halb aufgegessene Wurstsemmel. Wie gerne hätte ich von dieser Semmel abgebissen, genau da, wo auch er abgebissen hatte. Vielleicht konnte ich, wenn er mich hier alleine ließ … Doch der Pirat macht keinerlei Anstalten, sich zurückzuziehen. Er öffnete eine weitere Tür an der rechten Seite des Zimmers und machte eine einladende Geste. Ohne ihn anzusehen, huschte ich hinein und schloss die Tür. Sie hatte keine Verriegelung. Schlimmer noch, sie war an der Unterseite offen, wie eine öffentliche Toilette. Ich hob den Rock, zog meine Unterhose runter zu den Knien, auf keinen Fall tiefer, und ließ mich auf die Klobrille sinken. Dabei versuchte ich, möglichst kein Geräusch zu verursachen, was natürlich vollkommen falsch gedacht war, denn umso lauter würde gleich das Plätschern klingen. Und der Pirat ging einfach nicht weg. Unter der Klotür konnte ich immer noch seinen Schatten sehen.

Mein ganzer Unterbauch schmerzte, so dringend war es jetzt. Ich schloss die Augen, steckte mir die Finger in die Ohren, so fest, dass es rauschte, und versuchte mir vorzustellen, dass ich in einem Flugzeug saß. Ganz allein in einem riesigen Flugzeug auf der Toilette, kein Mensch weit und breit, der mich hören konnte, ein menschenleeres Flugzeug, und wenn ich endlich meinen Klogang beendet hatte, dann würde ich auf den Pilotensitz klettern und dieses Flugzeug sicher landen … alles wurscht, Teddy, lass los, lass es laufen … plätscher, plätscher, tropf, tropf, ein ganzer Wasserfall von Tropfen, herrlich, wie es rinnen und rauschen wird …

Ich biss die Zähne zusammen und krallte meine Nägel in die Handinnenflächen. Himmelschimmel, ich schaff es nicht, ich schaff es nicht! Vor Wut über mich hätte ich am liebsten geheult. Ich wusste, ich durfte nicht länger hier drin bleiben, er musste sonst denken, dass ich ein richtiges Geschäft in sein Klo legte und diese Vorstellung war einfach zu schrecklich. Beschämt und frustriert zupfte ich ein bisschen an der Klopapierrolle herum, dieses Geräusch sollte er jetzt hören, ich war schließlich zivilisiert.

Mit beinah berstender Blase betätigte ich die Spülung und öffnete die Tür. Ich stand allein in dem Raum mit dem Eisentisch, der Pirat war drüben bei seinen Büchern und sein vermeintlicher Schatten stellte sich als Tischbein heraus.

Sollte ich es nochmal versuchen, jetzt wo die Luft rein war?

»Frau Kis, ich hab Ihnen gar nichts zu trinken angeboten. Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser? Etwas anderes habe ich leider nicht.«

Drei Dinge, die zu beachten waren:

Erstens: Natürlich war ich am Verdursten, sicher wegen der Erdnüsse, des Long Island Ice Teas und der anschließenden Kotzerei.

Zweitens: Natürlich durfte ich keinen weiteren Schluck Flüssigkeit zu mir nehmen, sonst würde meine Blase endgültig platzen.

Drittens: Natürlich musste ich das Angebot annehmen, die Chance eines seiner Gläser zu benutzen, durfte ich nicht ungenutzt lassen, wo es schon mit der Wurstsemmel nicht geklappt hatte.

»Wasser, bitte.«

Während ich an meinem Glas nippte, das er aus seiner Schreibtischschublade gezogen und mit Wasser aus dem Klowaschbecken gefüllt hatte, dachte ich darüber nach, dass nirgends – auch nicht im Hinterzimmer – ein Foto oder sonst irgendetwas Privates zu finden war, von der Wurstsemmel einmal abgesehen.

Mir kam ein Gedanke, ein wichtiger, interessanterweise war es das erste Mal, dass ich daran dachte, komisch eigentlich. Und ich musste diesen Gedanken auch gleich laut aussprechen, so panisch und plötzlich wie er gekommen war.

»Haben Sie Kinder, Herr Nemeth?«

Er schüttelte den Kopf. Ich hätte am liebsten gelacht vor Erleichterung. Ohne Kinder war die Trennung von einer möglichen Partnerin viel leichter.

»Ich hab auch keine«, gab ich überflüssigerweise von mir, es hatte mich schließlich kein Mensch danach gefragt. Jetzt die Frage aller Fragen.

»Und äh –«, begann ich, »ähm, Ihre Frau? Hmm?«

Er runzelte die Stirn. Ich sog die Luft ein, ein bisschen zu laut vielleicht, und ergänzte: »Oder … oder ist sie Ihre Freundin …«

»Wer?«, fragte der Pirat, und die Furchen auf seiner Stirn wurden so tief, dass ein Marienkäfer hätte hineinfallen können. Ich schwitzte Blut. Frag doch nicht wer, du lieber, süßer Dummkopf. Sag nur ob. Doch er sagte nichts, er sah mich nur an, und wieder einmal war es an mir, die Situation zu retten. »Na, ich dachte nur …«, stammelte ich, worauf er sein übliches »Aha« erwiderte.

Ach verdammt, das war alles so sinnlos und in den nächsten Sekunden würde außerdem meine Blase explodieren. Ich nahm meine Jane Eyre und drückte sie an die Brust. »Wie viel schulde ich Ihnen?«, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf.

»Nichts, ich möchte sie Ihnen schenken.«

»Danke«, flüsterte ich.

Der Pirat sperrte das Geschäft ab. Ich stand daneben und konnte den Blick nicht von seinem Gesicht wenden. Wie er wohl lachend aussehen würde? Oder ohne Augenklappe?

»Sie können mir ruhig sagen, warum Sie die Augenklappe tragen. Ich verstehe alles«, platzte es aus mir heraus.

Er antwortete nicht, senkte nur den Kopf und schlug schweigend den Weg in Richtung Straßenbahnstation ein. Gott, der Mann machte mich fuchsteufelswild. Der war ja noch mühsamer als ich selbst!

Ich lief ihm nach, wobei ich wegen meiner Blase bereits nahe dran war, das Bewusstsein zu verlieren.

»Dann sagen Sie mir wenigstens, was mit der Buttersäure in den Sechzigern war«, rief ich trotzig. Jetzt sah er mich an.

»Das war in den Siebzigern.«

»Okay. Und?«

Er blieb stehen. »Frau Kis, vertrauen Sie mir?«

»Ja«, sagte ich. Und ich liebe dich, ich liebe dich.

»Dann kommen Sie am Montagabend zu mir ins Geschäft.«

»Ja«, wiederholte ich artig und nickte so lange und so eifrig, bis er hinzufügte: »Ich möchte Ihnen jemanden vorstellen.«

In dem Moment kam die Straßenbahn.

Wir saßen nebeneinander auf einem Zweiersitz, doch ich konnte die Nähe zu ihm nicht genießen. Schließlich hielt ich es nicht länger aus.

»Wen?«, stieß ich hervor. Seine Frau? Seine Freundin? Irgendeinen Typen für mich, damit ich ihn endlich in Ruhe ließ?

»Vertrauen Sie mir«, wiederholte er. Und das war das Letzte, das er sagte, bis ich aussteigen musste.

»Auf Wiedersehen, Frau Kis.«

»Auf Wiedersehen, Herr Nemeth.« Ich stieg aus, schritt hoheitsvoll neben der anfahrenden Straßenbahn her, und als sie verschwunden war, stürmte ich das erstbeste Lokal und verewigte mich in der Kloschüssel dort mit mindestens zwei Litern.


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