Das Spinoza-Problem

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AMSTERDAM, 1656


Bento stand hinter dem Fenster und sah seinem Bruder nach, der zur Synagoge ging. Gabriel hat Recht: Ich füge denen Schaden zu, die mir am nächsten stehen. Meine Wahlmöglichkeiten sind grausam: Entweder muss ich mich zurücknehmen, mein eigenes Ich aufgeben und meiner Neugier Fesseln anlegen, oder ich muss denen Schaden zufügen, die mir am Nächsten stehen. Gabriels Erzählung über die Wut, die Bento beim Sabbatmahl entgegengeschlagen war, erinnerte ihn an van den Endens väterliche Warnung vor den zunehmenden Gefahren, die ihm von der jüdischen Gemeinde drohten. Fast eine halbe Stunde lang sann er über Fluchtszenarien aus dieser Falle nach, dann stand er auf, kleidete sich an, brühte sich einen Kaffee auf und ging mit der Tasse in der Hand durch die Hintertür in den Laden des Handelsgeschäfts der Spinozas.

Dort staubte er ab, fegte den Kehricht durch die Eingangstür auf die Straße und schüttete einen großen Sack duftender, getrockneter Feigen – eine frische Lieferung aus Spanien – in einen Behälter. Er setzte sich an seinen üblichen Platz am Fenster, schlürfte seinen Kaffee, bediente sich bei den Feigen und gab sich Tagträumen hin, die ihm durch den Kopf gingen. Seit kurzem praktizierte er eine Meditation, mittels derer er sich von seinem Gedankenfluss abkoppelte, sich seinen Geist als Theatersaal vorstellte und sich selbst als Zuschauer, der den Verlauf der Aufführung verfolgte. Augenblicklich tauchte Gabriels Gesicht mit seiner ganzen Traurigkeit und Verwirrung auf der Bühne auf, doch Bento hatte gelernt, den Vorhang fallen zu lassen und zum nächsten Akt überzugehen. Bald erschien van den Enden vor seinem geistigen Auge. Er lobte Bentos Fortschritte in Latein und drückte ihm dabei sanft und väterlich die Schulter. Diese Berührung – sie fühlte sich gut an. Aber wer wird mich nun jemals wieder berühren, dachte Bento, da Rebecca und nun auch Gabriel sich von mir abwenden?

Dann sah Bento in Gedanken sich selbst beim Hebräischunterricht mit seinem Lehrer und mit Clara Maria. Er lächelte, als er mit seinen beiden Schülern wie mit Kindern das aleph, bet, gimmel paukte, und er lächelte noch mehr bei der Vorstellung, wie die kleine Clara Maria ihrerseits mit ihm das griechische alpha, beta, gamma paukte. Er sah das klare, fast strahlende Bild Clara Marias vor sich – Clara Maria, dieser dreizehnjährige Kobold mit dem krummen Rücken, diese Kindfrau, deren verschmitztes Lächeln ihre Anstrengungen Lügen strafte, sich als erwachsene, ernsthafte Lehrerin auszugeben. Ein flüchtiger Gedanke huschte vorüber: Ach, wäre sie nur älter.

Zur Mittagszeit wurde seine ausgedehnte Meditation durch eine Bewegung vor dem Fenster gestört. In der Ferne sah er Jacob und Franco, die, im Gespräch vertieft, auf seinen Laden zusteuerten. Bento hatte sich fest vorgenommen, ihnen zuvorkommend zu begegnen; er wusste, dass es sich nicht gehörte, andere verstohlen zu beobachten, und ganz besonders andere, die möglicherweise über ihn sprachen. Doch er konnte seine Augen nicht von der seltsamen Szene abwenden, die sich vor seinen Augen abspielte.

Franco trödelte drei oder vier Schritte hinter Jacob her, woraufhin Jacob sich umdrehte, ihn an der Hand packte und versuchte, ihn hinter sich herzuziehen. Franco machte sich los und schüttelte heftig den Kopf. Jacob antwortete, und nachdem er sich umgeblickt hatte, um sicher zu gehen, dass keine Augenzeugen zu sehen waren, legte er seine riesigen Pranken auf Francos Schultern, schüttelte ihn grob und stieß ihn vor sich her, bis sie den Laden erreicht hatten.

Gebannt von diesem Schauspiel, beugte Bento sich kurz vor, kehrte aber bald wieder zu seiner Meditation zurück und brütete über das Rätsel Franco und Jacob. Ein paar Minuten später wurde er aus seinen Träumereien gerissen, als die Tür zu seinem Laden aufging und er Schritte im Verkaufsraum vernahm.

Er sprang auf, begrüßte seine Besucher und zog zwei Stühle für sie heran. Er selbst setzte sich auf einen riesigen Sack Kaffeebohnen.

»Kommen Sie gerade vom Sabbat-Gottesdienst?«

»Ja«, sagte Jacob, »einer von uns erfrischt und der andere noch aufgewühlter als zuvor.«

»Interessant. Dasselbe Ereignis zeitigt zwei unterschiedliche Reaktionen. Und die Erklärung für dieses sonderbare Phänomen?«, fragte Bento.

Jacob beeilte sich mit einer Antwort. »Die Angelegenheit ist nicht so interessant, und die Erklärung liegt auf der Hand. Anders als Franco, der keine jüdische Erziehung genossen hat, bin ich mit den jüdischen Traditionen und der hebräischen Sprache bestens vertraut und …«

»Gestatten Sie mir, Sie zu unterbrechen«, sagte Bento. »Aber Ihre Erklärung bedarf schon im Ansatz einer Erklärung. Kein Kind, das in Portugal in einer Familie von Marranen aufwuchs, ist mit Hebräisch oder mit jüdischen Ritualen vertraut. Das galt auch für meinen Vater, der erst Hebräisch lernte, nachdem er Portugal verlassen hatte. Er erzählte mir, dass in seiner Kindheit in Portugal gegen jede Familie, die ihre Kinder in der hebräischen Sprache oder in den jüdischen Traditionen unterrichtet hätte, exemplarische Strafen verhängt wurden. Hörte ich übrigens nicht erst gestern von einem geliebten Vater«, und damit wandte Spinoza sich an Franco, »der sterben musste, weil die Inquisition eine vergrabene Thora fand?«

Franco, der sich nervös mit den Fingern durch die langen Haare fuhr, sagte nichts, nickte aber kaum merklich.

Bento wandte sich wieder Jacob zu und fuhr fort: »Deshalb meine Frage, Jacob: Woher haben Sie Ihre Kenntnisse des Hebräischen?«

»Vor drei Generationen konvertierte meine Familie zum neuchristlichen Glauben«, beeilte Jacob sich zu sagen, »doch sie blieben Kryptojuden und fest entschlossen, den Glauben am Leben zu erhalten. Als Jugendlicher von elf Jahren wurde ich von meinem Vater nach Rotterdam geschickt, wo ich in seinem Handelsunternehmen arbeitete, und die folgenden acht Jahre verbrachte ich jeden Abend damit, mit meinem Onkel, einem Rabbiner, Hebräisch zu studieren. Er bereitete mich auf die Bar Mitzwa in der Rotterdamer Synagoge vor und setzte anschließend meine jüdische Erziehung bis zu seinem Tode fort. Die letzten zwölf Jahre lebte ich hauptsächlich in Rotterdam und kehrte kürzlich nur deshalb nach Portugal zurück, um Franco zu retten.«

»Und Sie«, Bento wandte sich Franco zu, dessen Blick auf den schlecht gefegten Fußboden des Spinoza-Ladens geheftet war, »Sie können kein Hebräisch?«

Aber Jacob antwortete an seiner Stelle: »Natürlich nicht. Wie Sie selbst gerade sagten, ist Hebräisch in Portugal nicht erlaubt. Wir alle lernen die Heilige Schrift auf Latein zu lesen.«

»Sie können also kein Hebräisch, Franco?«

Abermals schaltete Jacob sich ein: »In Portugal wagt es niemand, Hebräisch zu unterrichten. Er müsste nicht nur selbst mit seiner sofortigen Hinrichtung rechnen, sondern die Häscher würden auch auf seine ganze Familie Jagd machen. Während wir hier sitzen und miteinander sprechen, halten sich Francos Mutter und zwei seiner Schwestern in einem Versteck auf.«

»Franco …«, Bento beugte sich vor und sah ihm direkt in die Augen, »Jacob antwortet immer an Ihrer Stelle. Warum wollen Sie nicht selbst antworten?«

»Er versucht nur, mir zu helfen«, flüsterte Franco.

»Und Ihnen ist geholfen, wenn Sie selbst schweigen?«

»Ich bin zu aufgewühlt, um meinen Worten trauen zu können«, sagte Franco lauter. »Jacob sagt die Wahrheit. Meine Familie ist in Gefahr, und wie er sagt, habe ich abgesehen vom aleph, bet, gimmel, das er mich lehrte, keine jüdische Ausbildung genossen. Er schrieb die Buchstaben immer in den Sand. Und selbst diese musste er anschließend mit den Füßen sorgfältig verwischen.«

Bento drehte seinen Körper vollends zu Franco und damit bewusst von Jacob fort: »Sind Sie auch der Ansicht, dass der Gottesdienst Sie aufgewühlt hat, während Jacob sich danach erfrischt fühlte?«

Franco nickte.

»Und Sie waren weswegen aufgewühlt?«

»Wegen Zweifeln und Gefühlen.« Franco warf einen verstohlenen Blick zu Jacob. »So starke Gefühle, dass ich Angst habe, sie zu beschreiben. Nicht einmal Ihnen gegenüber.«

»Vertrauen Sie darauf, dass ich Ihre Gefühle verstehe und nicht beurteilen werde.«

Franco senkte den Kopf. Er zitterte.

»Was für eine Furcht«, bemerkte Bento und fuhr dann fort: »Ich will versuchen, Sie zu beruhigen. Zunächst wollen wir überlegen, ob Ihre Angst vernünftig ist.«

Franco verzog das Gesicht und sah Spinoza verwirrt an.

»Wir wollen feststellen, ob Ihre Angst begründet ist. Betrachten Sie diese beiden Fakten: Erstens stelle ich keine Bedrohung dar. Ich gebe Ihnen mein Versprechen, Ihre Worte niemals öffentlich zu machen. Außerdem zweifle ich ebenfalls an vielen Dingen. Möglicherweise teile ich sogar manche Ihrer Gefühle. Und zweitens droht hier in Holland keine Gefahr; hier gibt es keine Inquisition. Weder in diesem Laden hier noch in dieser Gemeinde, auch nicht in dieser Stadt und nicht einmal in diesem Land. Amsterdam ist seit vielen Jahren von der iberischen Halbinsel unabhängig. Das wissen Sie doch, oder?«

»Ja«, antwortete Franco zaghaft.

»Und trotzdem verhält sich ein Teil Ihrer Seele, den Sie nicht unter Kontrolle haben, so, als drohte eine große, unmittelbare Gefahr. Ist es nicht bemerkenswert, wie gespalten unsere Seele ist? Wie sehr unsere Vernunft, der vornehmste Teil unserer Seele, von unseren Emotionen geknechtet wird?«

Franco zeigte sich nicht beeindruckt.

Bento zögerte. Er empfand sowohl wachsende Ungeduld als auch das Gefühl, einen Auftrag, ja fast eine Pflicht erfüllen zu müssen. Aber wie fortfahren? Erwartete er von Franco zu viel zu schnell? Er rief sich viele Gelegenheiten ins Gedächtnis, als seine eigene Vernunft nicht in der Lage gewesen war, seine Ängste zu bezwingen. Erst am vorhergehenden Abend war es so gewesen, als er gegen den Strom der Menschen gegangen war, die auf dem Weg zum Sabbat-Gottesdienst in der Synagoge waren.

Schließlich beschloss er, seinen einzigen verfügbaren Hebel anzusetzen, und sagte so einfühlsam, wie er konnte: »Sie baten mich darum, Ihnen zu helfen. Ich war damit einverstanden. Aber wenn Sie meine Hilfe möchten, müssen Sie mir vertrauen. Sie müssen mir helfen, Ihnen zu helfen. Verstehen Sie?«

»Ja«, sagte Franco und seufzte.

»Nun, dann besteht Ihr nächster Schritt darin, Ihre Ängste auszusprechen.«

Franco schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Sie sind so schrecklich. Und sie sind gefährlich.«

»Nicht zu schrecklich, um dem Lichte der Vernunft zu widerstehen. Und ich zeigte Ihnen gerade, dass sie nicht gefährlich sind, wenn nichts zu befürchten ist. Nur Mut! Jetzt ist die Zeit, sich ihnen zu stellen. Wenn Sie es nicht tun, dann sage ich Ihnen nochmals« – Bentos Stimme wurde eindringlich –, »dass es keinen Sinn hat, dass wir uns noch einmal treffen.«

Franco holte tief Luft und begann: »Heute in der Synagoge hörte ich die Rezitationen der Heiligen Schrift in einer fremden Sprache. Ich verstand nichts …«

»Aber Franco«, unterbrach Jacob, »natürlich hast du nichts verstanden. Ich sage dir immer wieder, dass dieses Problem ein vorübergehendes ist. Der Rabbi erteilt Hebräischunterricht. Geduld, Geduld.«

»Und ich sage dir immer wieder«, schoss Franco zurück, und in seine Stimme mischte sich nun Wut, »dass es nicht nur die Sprache ist. Höre mir nur einmal zu! Es ist das ganze Spektakel. Heute Morgen in der Synagoge schaute ich mich um und sah alle mit ihren kostbar bestickten Scheitelkäppchen, den blauen und weißen Gebetsschals mit den Fransen, ich sah, wie sie ihre Köpfe wie Papageien am Fressnapf ruckartig vor und zurück bewegten und den Blick zum Himmel richteten. Ich hörte es, ich sah es, und ich dachte … Nein, ich kann nicht sagen, was ich dachte.«

»Sag es, Franco«, bat Jacob. »Erst gestern hast du mir bestätigt, dass das hier der Lehrer ist, nach dem du gesucht hast.«

Franco schloss die Augen. »Ich dachte: Was ist der Unterschied zwischen diesem Spektakel und dem Spektakel – nein, ich will es geradeheraus sagen – und dem Unsinn, der während der katholischen Messe stattfand, die wir Neuchristen besuchen mussten? Weißt du noch, Jacob, wie wir als Kinder nach der Messe immer über die Katholiken gespottet haben? Wir spotteten über diese absonderlichen Kostüme der Priester, über die endlosen, grausamen Darstellungen der Kreuzigung, die Anbetung der Knochensplitter von Heiligen, die Oblaten und den Wein, und dass sie das Fleisch aßen und das Blut tranken.« Franco erhob seine Stimme: »Jüdisch oder katholisch … es gibt keinen Unterschied … es ist Wahnsinn. Es ist alles Wahnsinn.«

Jacob setzte sein Scheitelkäppchen auf, legte eine Hand darauf und stimmte leise einen Gesang auf Hebräisch an. Auch Bento war erschüttert und suchte sorgfältig nach den richtigen, den behutsamsten Worten. »Solche Gedanken zu denken und dann zu glauben, dass Sie der Einzige sind. Sich mit Ihren Zweifeln allein zu fühlen. Das muss schrecklich sein.«

Franco fuhr hastig fort: »Es gibt noch etwas, einen noch viel schlimmeren Gedanken. Ich denke ständig daran, dass mein Vater für diesen Wahnsinn sein Leben geopfert hat. Für diesen Wahnsinn hat er uns alle in Gefahr gebracht – mich, seine Eltern, meine Mutter, meinen Bruder, meine Schwestern.«

Jacob konnte nicht an sich halten. Er trat näher, beugte seinen riesigen Kopf zu Francos Ohr und sagte nicht unfreundlich: »Vielleicht weiß der Vater mehr als der Sohn.«

Franco schüttelte den Kopf, öffnete den Mund, sagte dann aber nichts.

»Und denke auch darüber nach«, fuhr Jacob fort, »dass deine Worte dem Tod deines Vaters den Sinn nehmen. Solche Gedanken zu denken machen seinen Tod wirklich zu einem verschwendeten Tod. Er starb, um den Glauben für dich heilig zu halten.«

Franco sah zerknirscht aus und beugte den Kopf.

Bento wusste, dass er eingreifen musste. Zuerst wandte er sich an Jacob und sagte ruhig: »Noch vor einem Augenblick baten Sie Franco inständig, sich alles von der Seele zu reden. Und wäre es nun, da er genau das tut, was Sie wollten, nicht besser, ihn zu ermutigen, als ihn zum Schweigen zu bringen?«

Jacob trat einen halben Schritt zurück. Bento fuhr im gleichen, ruhigen Tonfall fort, diesmal an Franco gewandt: »In welchem Dilemma müssen Sie sich nur befinden, Franco. Jacob behauptet, der Märtyrertod Ihres Vaters sei ein verschwendeter Tod gewesen, wenn Sie nicht an etwas glauben, was Sie für nicht glaubwürdig halten. Und wer wollte seinem eigenen Vater schon Leid zufügen? Es ist ein steiniger Weg, selbständig zu denken. Ein steiniger Weg, uns zu vervollkommnen, indem wir unsere gottgegebene Fähigkeit nutzen, vernünftige Schlüsse zu ziehen.«

Jacob schüttelte den Kopf. »Moment, Moment, das, was Sie zuletzt über die gottgegebene Fähigkeit sagten – vernünftige Schlüsse zu ziehen? Das habe ich nicht gesagt. Sie verdrehen alles. Sie sprechen über Vernunft? Ich zeige Ihnen, was Vernunft ist. Benutzen Sie Ihren gesunden Menschenverstand. Öffnen Sie die Augen. Ich möchte, dass Sie vergleichen! Sehen Sie Franco an. Er leidet, er weint, er winselt um Gnade, er verzagt. Sehen Sie ihn?«

Bento nickte.

»Und nun sehen Sie mich an: Ich bin stark. Ich liebe das Leben. Ich kümmere mich um ihn. Ich habe ihn vor der Inquisition gerettet. Ich werde von meinem Glauben und der Gemeinde meiner jüdischen Glaubensbrüder getragen. Mich tröstet das Wissen, dass unsere Glaubensgemeinschaft und unsere Tradition fortbestehen. Vergleichen Sie uns beide mit Ihrer kostbaren Vernunft und sagen Sie mir, weiser Mann, was die Vernunft daraus schließt.«

Falsche Ideen liefern falschen und fragilen Trost, dachte Bento. Aber er hielt seine Zunge im Zaum.

Jacob bohrte weiter: »Und wenden Sie das auf sich selbst an, Gelehrter. Was sind wir, was sind Sie ohne unsere Gemeinde, ohne unsere Traditionen? Können Sie mutterseelenallein auf der Welt leben? Wie ich höre, werden Sie sich keine Frau zum Weibe nehmen. Was für ein Leben können Sie ohne Mitmenschen führen? Ohne Familie? Ohne Gott?«

Bento, der Konflikten immer aus dem Weg ging, war entsetzt von Jacobs Schmähworten.

Jacob wandte sich an Franco und sagte mit sanfterer Stimme: »Du wirst dich so geborgen fühlen wie ich, wenn du erst einmal den Text und die Gebete verstehst, wenn du verstehst, was alles bedeutet.«

»Mit dieser Aussage bin ich einverstanden«, sagte Bento und versuchte damit, Jacob zu beschwichtigen. »Zu Ihrem Schock, Franco, gesellt sich noch Fassungslosigkeit. Alle Marranen, die Portugal verlassen müssen, sind verwirrt; sie müssen erst einmal wieder lernen, Juden zu sein, müssen wie ein Kind ganz von vorne mit dem aleph, bet, gimmel beginnen. Drei Jahre lang war ich Assistent des Rabbiners bei seinen Hebräischkursen für Marranen, und ich versichere Ihnen, dass Sie schnell lernen werden.«

»Nein«, beharrte Franco, der nun wieder dem widerspenstigen Franco ähnelte, den Bento vom Fenster aus gesehen hatte. »Weder du, Jacob Mendoza, hörst mir zu, noch Sie hören mir zu, Bento Spinoza. Ich sage es noch einmal: Es ist nicht die Sprache. Ich kann kein Hebräisch, aber heute Morgen in der Synagoge las ich während des Gottesdienstes die spanische Übersetzung der heiligen Thora. Sie ist voller Wunder. Gott teilt das Rote Meer, er überschüttet die Ägypter mit Plagen, Er spricht in der Verkleidung eines brennenden Busches. Warum geschahen alle Wunder damals, zur Zeit der Thora? Sagt mir beide: Ist die Zeit der Wunder vorüber? Hat sich der große, allmächtige Gott schlafen gelegt? Wo war dieser Gott, als mein Vater auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde? Und aus welchem Grund wurde er verbrannt? Dafür, dass er das Heilige Buch eben dieses Gottes schützte? War Gott nicht mächtig genug, um meinen Vater zu retten, der ihn so sehr verehrte? Wenn es so war, wer braucht dann einen so schwachen Gott? Oder wusste Gott nicht, dass mein Vater ihn verehrte? Wenn es so war, wer braucht dann einen so unwissenden Gott? War Gott mächtig genug, um ihn zu schützen, beschloss aber, es nicht zu tun? Wenn es so war, wer braucht dann einen so lieblosen Gott? Sie, Bento Spinoza, den sie den ›Gesegneten‹ nennen, Sie wissen über Gott Bescheid, Sie sind ein Gelehrter. Erklären Sie mir das.«

»Warum hatten Sie Angst zu sprechen?«, fragte Bento. »Sie stellen wichtige Fragen, Fragen, welche die Frommen seit Jahrhunderten verwirren. Ich glaube, das Problem hat seine Wurzeln in einem fundamentalen und gewaltigen Irrtum, dem Irrtum nämlich anzunehmen, Gott sei ein lebendes, denkendes Wesen, ein Wesen nach unserem Ebenbild, ein Wesen, das denkt wie wir, ein Wesen, das über uns nachdenkt.

Die alten Griechen haben diesen Irrtum erkannt. Vor zweitausend Jahren schrieb ein weiser Mann namens Xenophanes etwa Folgendes: Hätten Ochsen, Löwen und Pferde Hände, mit denen sie Bilder ritzen könnten, würden sie Gott nach ihrem Ebenbild formen und ihm einen Körper wie den ihren geben. Ich glaube, wenn Dreiecke denken könnten, würden sie einen Gott mit dem Aussehen und den Attributen eines Dreiecks erschaffen, und Kreise würden kreisförmige …«

Wutentbrannt schnitt Jacob Bento das Wort ab: »Sie reden, als wüssten wir Juden nichts vom Wesen Gottes. Vergessen Sie nicht, dass wir die Thora haben, in der seine Worte stehen. Und Franco, glaube ja nicht, dass Gott ohne Macht wäre. Vergiss nicht, dass die Juden fortbestehen, dass wir fortbestehen, auch wenn man uns noch so viel antut. Wo sind die ganzen anderen Völker geblieben – die Phönizier, Moabiter, Edomiter – und so viele andere, deren Namen ich nicht einmal kenne? Vergiss nicht, dass wir uns von den Gesetzen leiten lassen müssen, die Gott selbst den Juden gegeben hat, die Er uns, Seinem auserwählten Volk, gegeben hat.«

Franco warf Spinoza einen Blick zu, als wollte er sagen: Sehen Sie, womit ich konfrontiert bin?, und sagte zu Jacob: »Jeder glaubt, dass Gott ihn auserwählt hat – die Christen, die Moslems …«

»Nein! Was schert es uns, was andere glauben? Worauf es ankommt, ist das, was in der Bibel steht.« Jacob wandte sich an Spinoza: »Geben Sie es zu, Baruch, geben Sie es zu, Sie Gelehrter: Sagt das Wort Gottes etwa nicht, dass die Juden das auserwählte Volk sind? Können Sie das leugnen?«

»Diese Frage habe ich jahrelang untersucht, Jacob, und wenn Sie wollen, werde ich Ihnen die Ergebnisse meiner Forschungen mitteilen.« Bento sprach so eindringlich auf ihn ein wie ein Lehrer, der mit einem wissbegierigen Schüler spricht. »Um Ihre Frage über die Besonderheit der Juden zu beantworten, müssen wir zum Ursprung zurückgehen. Möchten Sie mich bei der Erforschung der genauen Worte der Thora begleiten? Mein Exemplar liegt nur ein paar Minuten von hier entfernt bei mir zu Hause.«

Beide nickten, tauschten Blicke aus, erhoben sich und folgten Bento, der die Stühle wieder ordentlich zurückstellte und seinen Laden zusperrte. Dann führte er sie zu seinem Haus.





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