Das Spinoza-Problem

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REVAL, ESTLAND, 1917–1918


Die Prophezeiung Direktor Epsteins, Rosenbergs begrenzte Neugier und Intelligenz würden ihn als harmlos erweisen, sollte sich als vollkommen falsch herausstellen. Und ebenfalls falsch war die Prophezeiung des Direktors, Goethe und Spinoza hätten sich augenblicklich aus Alfreds Gedanken verflüchtigt. Weit gefehlt: Alfred bekam das Bild des großen Goethe nicht mehr aus dem Kopf, der vor dem Juden Spinoza katzbuckelte. Immer wenn ihm Goethe und Spinoza (nun auf immer miteinander verschmolzen) in den Sinn kamen, hielt er diesem Missklang nur kurz stand und fegte ihn sogleich mit jedem ideellen Besen fort, den er gerade zur Hand hatte. Manchmal ließ er sich von Houston Stewart Chamberlains Argument überzeugen, dass Spinoza genau wie Jesus zwar der jüdischen Kultur angehörte, aber keinen Tropfen jüdischen Blutes in sich trug. Oder vielleicht war Spinoza ein Jude, der Ideen von arischen Denkern klaute. Oder vielleicht war Goethe verhext, von der jüdischen Verschwörung hypnotisiert worden. Oftmals zog Alfred in Erwägung, diesen Ansichten genauer nachzugehen und in Bibliotheken darüber nachzuforschen, doch er setzte seinen Vorsatz nie in die Tat um. Zu denken, wirklich zu denken, war so schwierig, war so harte Arbeit, als müsste er schwere Koffer auf dem Dachboden hin und her schleppen. Stattdessen wurde Alfred in der Kunst der Verdrängung immer versierter. Er lenkte sich ab. Er stürzte sich in viele Aktivitäten. Und am häufigsten redete er sich selbst ein, dass sich durch unbeirrbares Festhalten an Überzeugungen die Notwendigkeit von Nachforschungen erübrige.

Ein wahrer und edler Deutscher steht zu seinem Gelübde, und als sein einundzwanzigster Geburtstag nahte, erinnerte Alfred sich seines Versprechens an den Direktor, die Ethik von Spinoza zu lesen. Er wollte sein Wort halten, kaufte ein gebrauchtes Exemplar des Werkes und stürzte sich darauf, nur um gleich auf der ersten Seite mit einer langen Liste unverständlicher Definitionen konfrontiert zu werden:

»1. Unter Ursache seiner selbst verstehe ich etwas, dessen Wesen die Existenz einschließt, oder etwas, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann.

2. Endlich in seiner Art heißt ein Ding, das durch ein anderes von gleicher Natur begrenzt werden kann.  Ein Körper z. B. heißt endlich, weil wir stets einen andern größeren begreifen. Ebenso wird ein Gedanke durch einen andern Gedanken begrenzt. Dagegen wird ein Körper nicht durch einen Gedanken noch ein Gedanke durch einen Körper begrenzt.

3. Unter Substanz verstehe ich das, was in sich ist und durch sich begriffen wird; d.h. etwas, dessen Begriff nicht den Begriff eines andern Dinges nötig hat, um daraus gebildet zu werden.

4. Unter Attribut verstehe ich dasjenige an der Substanz, was der Verstand als zu ihrem Wesen gehörig erkennt.

5. Unter Modus verstehe ich eine Erregung (Affektion) der Substanz; oder etwas, das in einem andern ist, durch welches es auch begriffen werden kann.

6. Unter Gott verstehe ich das absolut unendliche Wesen, d. h. die Substanz, welche aus unendlichen Attributen besteht, von denen ein jedes ewiges und unendliches Sein ausdrückt.«

Wer konnte diesen jüdischen Kram verstehen? Alfred schleuderte das Buch durch das Zimmer. Eine Woche später versuchte er es noch einmal, überschlug die Definitionen und blätterte zum nächsten Abschnitt, den Axiomen, weiter:

»I. Alles, was ist, ist entweder in sich oder in einem andern.

II.  Was durch ein anderes nicht begriffen werden kann, muß durch sich selbst begriffen werden.

III.  Aus einer gegebenen bestimmten Ursache folgt notwendig eine Wirkung, und umgekehrt: wenn keine bestimmte Ursache gegeben ist, kann unmöglich eine Wirkung folgen.

IV.  Die Erkenntnis der Wirkung hängt von der Erkenntnis der Ursache ab und schließt dieselbe ein.

V.  Dinge, welche nichts miteinander gemein haben, können auch nicht wechselseitig auseinander erkannt werden, oder der Begriff des einen schließt den Begriff des andern nicht ein.«

Diese Axiome waren ebenso unverständlich, und das Buch segelte wiederum in die Ecke. Später versuchte er es mit dem nächsten Abschnitt, den Lehrsätzen, die sich ihm ebenso wenig erschlossen. Schließlich dämmerte es ihm, dass jeder folgende Abschnitt logisch auf den vorangegangenen Definitionen und Axiomen aufbaute und dass ein weiteres Querlesen nichts brachte. Von Zeit zu Zeit nahm er den dünnen Band zur Hand, blätterte zum Portrait von Spinoza auf der Titelseite und war gebannt von diesem langen, ovalen Gesicht und den riesigen, gefühlvollen, jüdischen Augen mit den schweren Lidern (die ihm ständig in die Augen starrten, egal, wie er das Buch auch drehte). Werde dieses verfluchte Buch los, sagte er sich – verkaufe es (das würde allerdings nichts einbringen, zumal es nach mehrmaligen Wurfversuchen noch ramponierter war als vorher). Oder verschenk es oder wirf es einfach weg. Er wusste, dass er das tun sollte, aber seltsamerweise konnte Alfred sich nicht von der Ethik trennen.

Warum? Nun, das Gelübde war natürlich ein Grund, aber nicht der ausschlaggebende. Hatte der Direktor nicht gesagt, dass man erst ganz erwachsen sein müsse, um die Ethik zu verstehen? Und hatte er nicht eine jahrelange Ausbildung vor sich, bis er ganz erwachsen war?

Nein, nein, es war nicht das Gelübde, das ihn irritierte: Es war das Problem mit Goethe. Er verehrte Goethe. Und Goethe verehrte Spinoza. Alfred konnte sich dieses verfluchten Buches nicht entledigen, denn Goethe hatte es so sehr geschätzt, dass er es ein geschlagenes Jahr lang mit sich herumgetragen hatte. Dieser obskure jüdische Unsinn hatte Goethes ungebärdige Leidenschaften besänftigt und ihm eine klarere Weltsicht als je zuvor ermöglicht. Wie konnte das sein? Goethe sah etwas darin, was er selbst nicht erkennen konnte. Vielleicht würde er eines Tages den Lehrer finden, der ihm das erklären konnte.

Die tumultartigen Ereignisse des Ersten Weltkriegs rückten dieses Rätsel bald aus seinem Bewusstsein. Nachdem er den Abschluss an der Oberschule in Reval gemacht und sich von Direktor Epstein, Herrn Schäfer und seinem Kunstlehrer, Herrn Purvit, verabschiedet hatte, begann Alfred sein Studium am Polytechnischen Institut in Riga, Lettland, das ungefähr dreihundert Kilometer von seiner Heimatstadt Reval entfernt lag. Als die deutschen Truppen 1915 Estland und auch Lettland bedrohten, wurde das komplette Polytechnische Institut nach Moskau verlegt, wo Alfred bis 1918 lebte. Im selben Jahr legte er seine Abschlussarbeit vor – einen architektonischen Entwurf für ein Krematorium – und erhielt sein Diplom für Architektur und Ingenieurwesen.

Obwohl seine akademische Arbeit herausragend war, fühlte sich Alfred im Ingenieurwesen nie zu Hause und zog es stattdessen vor, seine Zeit mit der Lektüre von mythologischen Themen und Romanen zu verbringen. Er war fasziniert von den Erzählungen der nordischen Mythologie in der Edda und auch von den verwickelt konstruierten Romanen Dickens’ und den monumentalen Werken Tolstois (die er auf Russisch las). Er versuchte es mit Philosophie, überflog die wichtigsten Gedanken von Kant, Schopenhauer, Fichte, Nietzsche und Hegel und las wie früher mit Vergnügen philosophische Arbeiten bevorzugt an belebten, öffentlichen Plätzen.

Im Chaos der Russischen Revolution von 1917 empörte sich Alfred beim Anblick der Hunderttausende von aufgebrachten Demonstranten, die auf die Straße gingen und den Umsturz der bestehenden Ordnung forderten. Auf Grundlage von Chamberlains Werk glaubte er inzwischen, dass Russland alles dem arischen Einfluss zu verdanken hätte, namentlich den Wikingern, der Hanse und deutschen Immigranten, wie er selbst einer war. Der Zusammenbruch der russischen Zivilisation konnte nur eines bedeuten: Die nordischen Fundamente wurden von den minderwertigen Rassen – von den Mongolen, den Juden, den Slawen und den Chinesen – zum Einsturz gebracht, und die Seele des wahren Russland wäre bald schon verloren. Sollte dieses Schicksal auch das Vaterland ereilen? Würde rassisches Chaos und Degeneration auch nach Deutschland selbst überschwappen?

Der Anblick der wogenden Menschenmassen widerte ihn an. Die Bolschewiken waren Tiere, deren Mission darin bestand, die Zivilisation zu vernichten. Er informierte sich über ihre Führer und gelangte bald zu der Überzeugung, dass mindestens neunzig Prozent dieser Leute Juden waren. Von 1918 an sprach Alfred selten von den Bolschewiken: Immer waren es die »jüdischen Bolschewiken«, und dieses doppelte Epithet sollte später in die Nazi-Propaganda einfließen. Nach seinem Diplom im Jahr 1918 war Alfred außer sich vor Freude, als er den Zug bestieg, der ihn quer durch Russland und zurück in seine Heimatstadt Reval brachte. Während der Zug westwärts schnaufte, saß er Tag um Tag am Fenster und starrte auf die endlosen, russischen Weiten. Fasziniert von diesem unendlichen freien Raum – ach ja, der Raum –, dachte er an Houston Stewart Chamberlains Wunsch nach mehr Lebensraum für das Vaterland. Hier, vor seinem Zugfenster der zweiten Klasse, lag der Lebensraum, den Deutschland so dringend brauchte, und doch machte allein die unendliche Weite Russlands diesen Lebensraum uneinnehmbar, es sei denn … es sei denn, ein Heer russischer Kollaborateure würde Seite an Seite mit dem Vaterland kämpfen. Das Samenkorn eines weiteren Gedankens schlug Wurzeln: Diese unwirtliche, offene Ebene – was sollte man damit anfangen? Warum nicht die Juden dorthin verfrachten, alle Juden Europas?

Das Pfeifen der Lokomotive und das Anziehen und Lösen der Bremsen signalisierten ihm, dass er zu Hause angekommen war. In Reval war es so kalt wie in Russland. Er zog alle Pullover über, die er besaß, knotete sich den Schal fest um den Hals und spazierte im weißen Hauch seines eigenen Atems – das Gepäck in der Hand, das Diplom in der Tasche – die vertrauten Straßen entlang, bis er vor der Tür des Hauses seiner Kindheit stand, dem Anwesen Tante Cäcilies, der Schwester seines Vaters. Auf sein Klopfen hin wurde er mit lauten Rufen »Alfred! Alfred!«, strahlenden Gesichtern, männlichem Händeschütteln und weiblicher Umarmung empfangen. Schnell führte man ihn in die warme, duftende Küche, wo Kaffee und Streuselkuchen aufgetragen wurden. Augenblicklich schickten sie einen kleinen Neffen los, der Tante Lydia holen sollte, die ein paar Türen weiter die Straße hinunter wohnte. Kurze Zeit später tauchte sie auf, beladen mit Essen für ein großes Festmahl.

Sein Zuhause war überwiegend so, wie er es in Erinnerung hatte, und ein solches Festhalten an Altbewährtem verschaffte Alfred eine seltene Verschnaufpause von seinem quälenden Gefühl, keine Wurzeln zu besitzen. Der Anblick seines eigenen Zimmers, das nach so vielen Jahren noch so gut wie unverändert war, zauberte einen Ausdruck kindlicher Seligkeit auf sein Gesicht. Er ließ sich in seinen alten Sessel fallen, in dem er immer gelesen hatte, und schwelgte im vertrauten Anblick seiner Tante, die geräuschvoll das Kissen zurechtklopfte und die Daunendecke auf seinem Bett aufschüttelte. Alfred sah sich im Zimmer um: Da war der dunkelrote Gebetsteppich, auf dem Alfred vor Jahrzehnten (wenn sein gottloser Vater außer Hörweite war) einige Monate lang seine Gutenachtgebete verrichtet hatte: »Segne Mutter im Himmel, segne Vater und lass ihn wieder gesund werden, und mach meinen Bruder Eugen gesund, und segne Tante Erika und Tante Marlene, und segne meine ganze Familie.«

Drüben an der Wand hing das riesige Plakat von Kaiser Wilhelm, immer noch mit stechendem Blick und mächtiger Statur, sich des Wankens der deutschen Streitmacht damals glücklicherweise noch nicht bewusst. Und auf dem Regal unter dem Plakat standen seine Bleifiguren in Reih und Glied: Wikingerkrieger und römische Soldaten, die er nun vorsichtig in die Hand nahm. Er hockte sich hin und inspizierte das kleine Bücherregal, das mit seinen Lieblingsbüchern vollgestopft war. Alfred strahlte, als er feststellte, dass sie noch immer in derselben Reihenfolge standen, in der er sie so viele Jahre zuvor zurückgelassen hatte. Sein Lieblingsbuch, »Die Leiden des jungen Werther«, war das erste, dann kam »David Copperfield« und dann alle anderen Favoriten in absteigender Reihenfolge.

Beim Abendessen mit Tanten, Onkeln, Neffen und Nichten fühlte sich Alfred immer noch wie zu Hause. Aber als alle gegangen waren, Stille sich über ihn senkte und er sich unter seine Daunendecke legte, stellte sich seine vertraute Anomie wieder ein. Das »Zuhause-Gefühl« begann zu verblassen. Selbst das Bild seiner beiden immer noch lächelnden Tanten, die winkten und nickten, wich in immer weitere Ferne, und zurück blieb nur beängstigende Dunkelheit. Wo war sein Zuhause? Wo gehörte er hin?

Am folgenden Tag streifte er durch die Straßen von Reval und suchte nach vertrauten Gesichtern, auch wenn alle seine Spielkameraden aus der Kindheit inzwischen erwachsen waren, sich in alle Winde zerstreut hatten und er tief in seinem Herzen wusste, dass er nach Phantomen suchte – nach Freunden, die er wünschte, gehabt zu haben. Er schlenderte zur Oberschule, wo die Flure und die geöffneten Klassenzimmer ebenso vertraut wie abweisend aussahen. Er wartete vor dem Klassenzimmer des Kunstlehrers, Herrn Purvit, der früher immer so freundlich zu ihm gewesen war. Als die Schulglocke läutete, trat er ein, um vor der nächsten Schulstunde mit seinem alten Lehrer zu sprechen. Herr Purvit forschte in Alfreds Gesicht, gab ein Geräusch des Erkennens von sich und erkundigte sich auf so allgemeine Art nach seinem Leben, dass Alfred, der sich verabschiedete, als die Schüler zur nächsten Schulstunde auf ihre Plätze flitzten, bezweifelte, ob er ihn überhaupt erkannt hatte. Als Nächstes suchte er vergeblich nach dem Klassenzimmer von Herrn Schäfer, fand aber das von Herrn Epstein, der nicht mehr Direktor war, sondern Geschichtslehrer wie früher einmal. Mit abgewandtem Gesicht schlich er schnell vorbei. Er wollte weder gefragt werden, ob er sein Versprechen im Falle von Spinoza eingelöst hatte, noch wollte er das Risiko eingehen festzustellen, dass Alfred Rosenbergs Gelübde längst aus Herrn Epsteins Erinnerung verschwunden war.

Wieder im Freien, wanderte er zum Hauptplatz, wo er das Hauptquartier der deutschen Streitkräfte entdeckte und spontan einen Entschluss fasste, der vielleicht sein ganzes Leben verändern würde. Er sagte dem Diensthabenden auf Deutsch, dass er sich zum Militärdienst melden wolle. Er wurde an den Unteroffizier Goldberg verwiesen, einen massigen Mann mit großer Nase, buschigem Schnurrbart und dem unübersehbaren Stempel »Jude« auf der Stirn. Ohne von seiner Schreibarbeit aufzusehen, hörte der Unteroffizier Alfred kurz an und lehnte dann dessen Ansinnen ab. »Wir sind im Krieg. Das deutsche Heer ist für Deutsche da und nicht für Bürger kriegsbeteiligter, besetzter Länder.«

Niedergeschlagen und vom Benehmen des Unteroffiziers tief verletzt, suchte Alfred ein paar Türen weiter in einem Bierkeller Zuflucht, bestellte sich einen Krug Bier und setzte sich ans Ende eines langen Tisches. Als er seinen Krug zum ersten Schluck hob, bemerkte er einen Mann in Zivilkleidung, der ihn anstarrte. Ihre Blicke trafen sich kurz, und der Fremde hob seinen Krug und nickte Alfred zu. Alfred erwiderte zögerlich und sank dann wieder in sich zurück. Als er ein paar Minuten später aufschaute, sah er den Fremden, einen großen, attraktiven, schlanken Mann mit einem länglichen Schädel. Dieser starrte ihn aus tiefblauen Augen an, erhob sich schließlich, kam mit dem Krug in der Hand zu Alfred herüber und stellte sich vor.





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