Das Spinoza-Problem

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AMSTERDAM, 1656


In der Jodenbreestraat wimmelte es am Sabbat bei Einbruch der Dämmerung vor Juden. Alle hatten ein Gebetsbuch und einen kleinen Samtbeutel mit dem Gebetsschal bei sich. Alle sephardischen Juden in Amsterdam waren auf dem Weg zur Synagoge, nur einer nicht. Nachdem er die Tür seines Ladens verschlossen hatte, blieb Bento an der Türschwelle stehen, warf einen langen Blick auf den Strom seiner jüdischen Mitbrüder, atmete tief ein, tauchte in die Menge ein und strebte in die entgegengesetzte Richtung. Er vermied den Blick der Entgegenkommenden und flüsterte sich beschwichtigende Worte zu, um seine Unsicherheit zu beruhigen: Niemand kennt mich, niemand beachtet mich. Es ist ein gutes Gewissen, worauf es ankommt, nicht ein schlechter Ruf. Ich habe das schon so oft getan. Aber die schwachen Waffen der Vernunft prallten an seinem hämmernden Herzen ab. Dann versuchte er, die Außenwelt auszuschalten, sich in sich selbst zu vertiefen und damit abzulenken, dass er über dieses sonderbare Duell zwischen Vernunft und Gefühl staunte, ein Duell, in dem die Vernunft immer unterlag.

Als die Menschenmenge sich lichtete, schlenderte er entspannter weiter, bog an der Straße, die an der Koningsgracht West entlangführte, links ab und steuerte auf das Haus und die Schule Franciscus van den Endens zu, des genialen Lehrers für Latein und klassische Geschichte.

Obwohl das Zusammentreffen mit Jacob und Franco schon bemerkenswert gewesen war, so war es einige Monate zuvor zu einer noch denkwürdigeren Begegnung im Laden von Spinoza gekommen, als Franciscus van den Enden zum ersten Mal das Geschäft betreten hatte. Während Spinoza seinen Weg fortsetzte, schwelgte er in der Erinnerung dieses Zusammentreffens. Die Einzelheiten hafteten vollkommen klar in seinem Gedächtnis.

Am Vorabend des Sabbat setzt bereits die Dämmerung ein, als ein würdevoller, formell gekleideter Mann mittleren Alters in vornehmer Haltung sein Handelsgeschäft betritt, um die Waren zu begutachten. Bento ist zu sehr mit seinen Eintragungen in seinem Kassenbuch beschäftigt, um die Ankunft seines Kunden zu bemerken. Schließlich hüstelt van den Enden höflich, um auf sich aufmerksam zu machen, und bemerkt dann energisch, aber nicht unfreundlich: »Junger Mann, wir sind doch nicht zu beschäftigt, um einen Kunden zu bedienen, wie?«

Bento lässt seinen Stift mitten im Wort fallen und springt auf. »Zu beschäftigt? Wohl kaum, mein Herr. Sie sind heute mein allererster Kunde. Bitte entschuldigen Sie meine Unaufmerksamkeit. Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Ich hätte gern einen Liter Wein und – abhängig vom Preis – vielleicht ein Kilogramm dieser verhutzelten Rosinen da in der unteren Kiste.«

Während Bento ein Bleigewicht auf die eine Schale der Waage legt und die Rosinen mit einer abgenutzten, hölzernen Kelle auf die andere schaufelt, bis beide Schalen im Gleichgewicht schweben, fügt van den Enden hinzu: »Aber ich habe Sie beim Schreiben gestört. Was für ein erfrischendes und ungewöhnliches – nein, mehr als ungewöhnliches, ja geradezu einzigartiges – Erlebnis, in ein Geschäft zu treten und auf einen jungen Angestellten zu stoßen, der so mit Schreiben beschäftigt ist, dass er nicht einmal einen Kunden bemerkt. Als Lehrer erlebe ich normalerweise genau das Gegenteil. Ich stoße auf Schüler, die nicht schreiben und nicht denken, obwohl sie es tun sollten.«

»Die Geschäfte laufen schlecht«, antwortet Bento. »Und so sitze ich Stunde um Stunde hier und habe nichts zu tun außer zu denken und zu schreiben.«

Der Kunde deutet auf Spinozas Kassenbuch, das immer noch auf der Seite aufgeschlagen ist, die er gerade beschrieben hat. »Lassen Sie mich eine Vermutung darüber wagen, was Sie da aufschreiben. Die Geschäfte laufen schlecht, und so machen Sie sich zweifellos Sorgen über das Schicksal Ihres Inventars. Sie vermerken in Ihrem Kassenbuch die Ausgaben und Einnahmen, stellen ein Budget auf und listen mögliche Lösungen. Richtig?«

Mit rotem Kopf dreht Bento sein Journal um und legt es mit dem Rücken nach oben auf den Tisch.

»Sie brauchen nichts vor mir zu verbergen, junger Mann. Ich bin ein Meisterspion und kann Geheimnisse für mich behalten. Und auch ich denke verbotene Gedanken. Darüber hinaus bin ich Lehrer für Rhetorik von Beruf und könnte Ihre Niederschriften mit ziemlicher Sicherheit verbessern.«

Spinoza hält ihm sein Journal zum Lesen hin und fragt verschmitzt lächelnd: »Wie gut ist Ihr Portugiesisch, mein Herr?«

»Portugiesisch! Jetzt haben Sie mich aber erwischt, junger Mann. Holländisch ja, Französisch, Englisch, Deutsch ebenfalls ja und auch Latein und Griechisch. Ein eingeschränktes Ja sogar bei Spanisch und ansatzweise auch bei Hebräisch und Aramäisch. Aber Portugiesisch leider nein. Sie sprechen übrigens ausgezeichnet Holländisch. Warum schreiben Sie nicht auf Holländisch? Sie sind doch bestimmt hier geboren?«

»Ja. Mein Vater emigrierte als Kind aus Portugal. Obwohl ich bei meinen geschäftlichen Verhandlungen Holländisch spreche, bin ich im Schriftlichen nicht perfekt. Manchmal schreibe ich auch auf Spanisch. Und ich vertiefe mich gerade ins Studium der hebräischen Sprache.«

»Seit jeher sehne ich mich danach, die Heilige Schrift einmal in ihrer Originalsprache zu lesen. Leider war mein Hebräischunterricht bei den Jesuiten nur sehr unzulänglich. Aber Sie schulden mir noch immer eine Antwort darauf, was Sie da schreiben.«

»Ihre Folgerung, dass ich über Budgets und eine Verbesserung der Verkaufszahlen schreibe, basiert, wie ich annehme, auf meiner Bemerkung, dass die Geschäfte schlecht gehen. Eine verständliche Deduktion, aber in diesem speziellen Fall vollkommen unrichtig. Meine Gedanken beschäftigen sich nur selten mit geschäftlichen Dingen, und ich schreibe niemals darüber.«

»Ich nehme alles zurück. Aber bevor ich den Fokus Ihres Schreibens weiter verfolge, erlauben Sie mir bitte, kurz abzuschweifen – eine pädagogische Anmerkung, eine Angewohnheit, die ich nur schwer ablegen kann: Ihr Gebrauch des Wortes ›Deduktion‹ ist korrekt. Der Vorgang, auf bestimmten Beobachtungen aufzubauen, um eine rationale Schlussfolgerung zu ziehen, mit anderen Worten, aus bestimmten Beobachtungen von unten her eine Theorie aufzubauen, heißt Induktion, wohingegen eine Deduktion mit einer a-priori-Theorie beginnt und dann abwärts zu verschiedenen Schlussfolgerungen führt.«

Als van den Enden Spinozas nachdenkliches, vielleicht auch dankbares Nicken registriert, fährt er fort: »Wenn es nicht die Geschäfte sind, worüber schreiben Sie dann?«

»Ach, nur darüber, was ich vor dem Fenster meines Ladens sehe.«

Van den Enden dreht sich um und folgt Bentos Blick zur Straße hinaus.

»Sehen Sie. Alle sind in Bewegung. Sie hasten hin und her. Den ganzen Tag, ihr ganzes Leben lang. Mit welchem Ziel? Reichtum? Ehre? Sinnenlust? Solche Ziele weisen ganz sicher in die falsche Richtung.«

»Warum?«

Bento hat alles gesagt, was er sagen wollte, doch ermutigt von den Fragen seines Kunden fährt er fort: »Solche Ziele vervielfältigen sich. Jedes Mal, wenn ein Ziel erreicht ist, brüten sie nur weitere Bedürfnisse aus. Folglich noch mehr Hasten, noch mehr Suchen, ad infinitum. Der wahre Weg zu unvergänglichem Glück muss anderswo liegen. Darüber denke ich nach, und darüber schreibe ich.« Bento läuft puterrot an. Nie zuvor hat er solche Gedanken laut ausgesprochen.

Das Gesicht des Kunden verrät großes Interesse. Er stellt seine Einkaufstasche ab, tritt näher und starrt Bento ins Gesicht.

Das war der Moment – der Moment der Momente. Bento liebte jenen Moment, jenen überraschten Blick, jenes neue, wachsende Interesse und jene Wertschätzung im Gesicht des Fremden. Und was für ein Fremder er war! Ein Sendbote aus der großen Welt da draußen, aus der nichtjüdischen Welt. Ein offensichtlich einflussreicher Mann. Es war ihm unmöglich, sich jenen Moment nur ein einziges Mal in Erinnerung zu rufen. Vielmehr spielte er diese Begebenheit ein weiteres Mal und manchmal auch ein drittes und viertes Mal durch. Und jedes Mal, wenn er sie sich vor Augen führte, füllten sich seine Augen mit Tränen. Ein Lehrer, ein eleganter Mann von Welt, interessierte sich für ihn, nahm ihn ernst, dachte vielleicht: »Das ist ja ein außergewöhnlicher junger Mann.«

Nur mit Mühe riss Bento sich von diesem Moment der Momente los und fuhr mit seiner Erinnerung an dieses erste Zusammentreffen fort.

Der Kunde lässt nicht locker: »Sie sagen, dass unvergängliches Glück woanders liege. Erzählen Sie mir von diesem ›woanders‹.«

»Ich weiß nur, dass es nicht in vergänglichen Zielen liegt. Es ist die Seele, die bestimmt, was angstvoll, wertlos, wünschenswert oder unschätzbar ist, und deshalb ist es die Seele und nur die Seele, die einer Veränderung bedarf.«

»Wie heißen Sie, junger Mann?«

»Bento Spinoza. Auf Hebräisch werde ich Baruch genannt.«

»Und auf Lateinisch ist Ihr Name Benedictus. Ein schöner, gesegneter Name. Ich bin Franciscus van den Enden. Ich leite eine Lateinschule. Spinoza, sagen Sie … hmm, vom lateinischen spina und spinosus, was so viel wie ›Dorn‹ und ›voller Dornen‹ bedeutet.«

»D’Espinosa auf Portugiesisch«, sagt Bento und nickt. »›Von einem dornigen Ort.‹«

»Nun, die Art Ihrer Fragen dürfte sich für die orthodoxen, doktrinären Lehrmeister durchaus als dornig erweisen.« Van den Enden kräuselt die Lippen zu einem verschmitzten Lächeln. »Sagen Sie mir, junger Mann, sind Sie ein Stachel im Fleische Ihrer Lehrer?«

Bento lächelt ebenfalls: »Ja, früher einmal war das so. Doch nun habe ich mich von meinen Lehrern befreit. Ich beschränke meine Stacheligkeit auf mein Kassenbuch. Meine Art von Fragen ist in einer abergläubischen Gemeinde nicht willkommen.«

»Aberglaube und Vernunft waren noch nie gute Gefährten. Aber vielleicht kann ich Sie mit ähnlich gesinnten Weggefährten bekannt machen. Hier zum Beispiel ist ein Mann, den Sie kennen lernen sollten.«

Van den Enden greift in seine Tasche und zieht ein altes Buch heraus, das er Bento reicht. »Der Mann heißt Aristoteles, und dieses Buch enthält seine Erkundung Ihrer Art von Fragen. Auch er betrachtete die Seele und das Streben nach einer Vervollkommnung unserer Kräfte der Vernunft als oberstes und einzigartiges menschliches Vorhaben. Mit der Nikomachischen Ethik von Aristoteles sollten Sie sich als Nächstes befassen.«

Bento hält das Buch an seine Nase und atmet den Duft ein. Dann schlägt er es auf. »Ich weiß von diesem Mann und würde ihn gern kennen lernen. Aber wir könnten uns leider nicht unterhalten. Ich kann kein Griechisch.«

»Dann sollte Ihre Ausbildung auch Griechisch umfassen. Natürlich erst, nachdem Sie Latein beherrschen. Wie schade, dass Ihre gelehrten Rabbiner so wenig über die Klassiker wissen. So eng begrenzt ist ihr Horizont, dass sie oft vergessen, dass Nichtjuden sich ebenfalls mit der Suche nach Weisheit beschäftigen.«

Bento antwortet augenblicklich. Wie immer erinnert er sich seiner jüdischen Herkunft, wenn Juden angegriffen werden. »Das stimmt nicht. Rabbi Menassch und auch Rabbi Mortera haben Aristoteles in der lateinischen Übersetzung gelesen. Und Maimonides hielt Aristoteles für den bedeutendsten aller Philosophen.«

Van den Enden streckt sich. »Gut gesagt, junger Mann, gut gesagt. Mit dieser Antwort haben Sie die Aufnahmeprüfung bestanden. Eine solche Loyalität gegenüber alten Lehrern veranlasst mich, Sie formell zum Studium an meiner Schule einzuladen. Es ist nun an der Zeit, dass Sie nicht nur von Aristoteles wissen, sondern ihn auch selbst kennen lernen. Ich kann ihn Ihrem Verständnis zuführen und auch die Welt seiner Gefährten, wie Sokrates, Platon und viele andere.«

»Bleibt nur die Frage der Studiengebühren. Wie ich sagte, laufen die Geschäfte schlecht.«

»Wir werden uns bestimmt einigen. Zum einen werden wir sehen, was für eine Art Hebräischlehrer Sie sind. Meine Tochter und ich möchten unser Hebräisch verbessern. Und vielleicht entdecken wir ja auch andere Möglichkeiten von Tauschgeschäften. Für den Augenblick schlage ich vor, dass Sie zu meinem Wein und den Rosinen – aber nicht diesen verhutzelten da – noch ein Kilogramm Mandeln dazugeben. Lassen Sie mich die prallen Rosinen auf dem oberen Regal probieren.«

So überwältigend war diese Erinnerung an den Beginn seines neuen Lebens, dass Bento, in Tagträumen schwelgend, mehrere Straßen über sein Ziel hinauslief. Er schreckte hoch, orientierte sich schnell und ging den selben Weg zurück zu van den Endens Haus, einem schmalen, dreistöckigen Gebäude an der Singel. Als er zur obersten Etage hinaufstieg, wo der Unterricht stattfand, blieb Bento wie immer auf jedem Treppenabsatz stehen und spähte in die Wohnräume. Der aufwendig geflieste Fußboden des ersten Treppenabsatzes mit seiner Umrandung aus blauen und weißen Delfter Windmühlenfliesen interessierte ihn wenig.

Im ersten Stockwerk erinnerte ihn der Geruch von Sauerkraut und das beißende Aroma von Curry daran, dass er wieder einmal vergessen hatte, an das Mittag- oder Abendessen zu denken.

Im zweiten Stockwerk hielt er sich nicht damit auf, die glänzende Harfe und die Tapeten an den Wänden zu bewundern, sondern erfreute sich stattdessen an den vielen Ölgemälden, die dicht an dicht an den Wänden hingen. Mehrere Minuten lang studierte Bento ein kleines Gemälde mit einem gestrandeten Schiff. Aufmerksam registrierte er die Perspektive, die von den großen Gestalten am Strand und den beiden kleineren im Boot gebildet wurde – die eine stand im Vorschiff und die andere, noch kleiner, saß am Bug. Er prägte sich die Szene ein und nahm sich vor, noch am selben Abend eine Kohlezeichnung davon anzufertigen.

Im dritten Stockwerk wurde er von van den Enden und sechs weiteren Schülern der Akademie begrüßt; einer der jungen Leute lernte Latein, und fünf hatten sich schon zur griechischen Sprache vorgearbeitet. Van den Enden begann den Abend wie immer mit einem Lateindiktat, das die Schüler entweder ins Holländische oder Griechische übersetzen mussten. In der Hoffnung, seinen Schülern die Leidenschaft für die Beherrschung neuer Sprachen einzuimpfen, unterrichtete van den Enden anhand von Texten, die er nicht nur für interessant, sondern auch für unterhaltsam hielt. Ovid war der Text der letzten drei Wochen gewesen, und an diesem Abend las van den Enden einen Abschnitt aus der Geschichte des Narcissus.

Im Gegensatz zu den anderen Schülern zeigte Spinoza nur geringes Interesse an geheimnisvollen Geschichten über wunderliche Metamorphosen. Bald war es offensichtlich, dass er keine unterhaltsamen Texte brauchte. Stattdessen hatte er eine Leidenschaft fürs Lernen und eine atemberaubende Sprachbegabung. Obwohl van den Enden sofort gewusst hatte, dass Bento ein außergewöhnlicher Schüler wäre, erstaunte es ihn immer wieder, wie er jedes Konzept, jede Allgemeingültigkeit und jede grammatikalische Eigentümlichkeit schon begriff und sich merkte, bevor die Erklärungen die Lippen seines Lehrers verlassen hatten.

Die täglichen Lateinübungen wurden von van den Endens Tochter Clara Maria betreut, einer schlaksigen Dreizehnjährigen mit Schwanenhals, verführerischem Lächeln und gekrümmter Wirbelsäule. Clara war, was Sprachen anging, selbst ein Wunderkind und demonstrierte vor den anderen Schülern schamlos ihre Gewandtheit, indem sie stets zwischen mehreren Sprachen wechselte, wenn sie mit ihrem Vater den täglichen Unterricht für jeden Schüler besprach. Anfangs war Bento schockiert: Einer der jüdischen Grundsätze, die er nie in Frage stellte, war die Unterlegenheit von Frauen – weniger Rechte und weniger Verstand. Obwohl Clara Maria ihn in Erstaunen versetzte, betrachtete er sie gleichwohl als Kuriosität, als Laune der Natur, und er sollte seine Ansicht niemals ändern, dass Frauen im Allgemeinen den Männern intellektuell weit unterlegen waren.

Sobald van den Enden mit den fünf Schülern, die Griechisch lernten, den Raum verlassen hatte, begann Clara Maria mit einer bei einer Dreizehnjährigen fast schon komisch anmutenden Ernsthaftigkeit, mit Bento und einem deutschen Schüler, Dirk Kerckrinck, die Vokabeln und Deklinationen zu üben, die man ihnen als Hausaufgabe aufgegeben hatte. Dirk lernte Latein, eine Voraussetzung für seine Zulassung zum Medizinstudium in Hamburg. Nach den Vokabeln wies Clara Maria Bento und Dirk an, ein bekanntes holländisches Gedicht von Jacob Cats, in dem es um das anständige Benehmen junger, unverheirateter Frauen ging, ins Lateinische zu übersetzen. Clara Maria las das Gedicht ihren Schülern unvergleichlich charmant vor, und als Dirk ihre Darbietung beklatschte und Bento es ihm eilig nachtat, strahlte sie übers ganze Gesicht, stand auf und verbeugte sich.

Die letzte Stunde war für Bento immer der Höhepunkt des ganzen Abends. Alle acht Schüler kamen im größeren Klassenzimmer zusammen – dem einzigen mit Fenstern – und lauschten van den Enden, der einen Diskurs über die antike Welt hielt. Sein Thema an diesem Abend war die griechische Vorstellung von Demokratie, seiner Ansicht nach die perfekteste Regierungsform, selbst wenn er zugeben musste – und hier warf er einen kurzen Blick zu seiner Tochter, die an allen seinen Veranstaltungen teilnahm –, dass »die griechische Demokratie über fünfzig Prozent der Bevölkerung ausschloss, nämlich Frauen und Sklaven«. Er fuhr fort: »Bedenken Sie die paradoxe Stellung der Frau im griechischen Drama: Auf der einen Seite war es den Frauen überhaupt verboten, Aufführungen zu besuchen, und erst in späteren, aufgeklärteren Jahrhunderten wurden sie zwar in die Amphitheater vorgelassen, durften aber nur auf den Plätzen mit der schlechtesten Sicht sitzen. Und betrachten Sie auf der anderen Seite die Heldinnen im Drama – stahlharte Frauen, die Protagonistinnen der bedeutendsten Tragödien von Sophokles und Euripides. Ich will Ihnen drei der eindrucksvollsten Gestalten in der ganzen Literatur nennen: Antigone, Phaedra und Medea.«

Nach seiner Präsentation, während der er Clara Maria anwies, einige der stärksten Passagen Antigones auf Griechisch und Holländisch vorzulesen, bat er, nachdem die anderen gegangen waren, Bento darum, noch ein paar Minuten zu bleiben.

»Ich möchte ein paar Dinge mit Ihnen besprechen, Bento. Zum einen: Erinnern Sie sich doch noch an mein Angebot bei unserem ersten Treffen in Ihrem Geschäft? Mein Angebot, Sie mit gleichgesinnten Denkern bekanntzumachen?« Bento nickte, und van den Enden fuhr fort: »Ich habe es nicht vergessen, und ich werde mein Versprechen nun nach und nach einlösen. Ihre Fortschritte in Latein sind ausgezeichnet, und wir werden uns nun der Sprache des Sophokles und des Homer zuwenden. Nächste Woche wird Clara Maria mit dem griechischen Alphabet beginnen. Außerdem habe ich Texte ausgewählt, die Sie besonders interessieren dürften. Wir werden mit Abschnitten von Aristoteles und Epikur arbeiten, die sich auf genau die Themen beziehen, für die Sie bei unserer ersten Begegnung Interesse bekundet haben.«

»Sie meinen meine Einträge im Kassenbuch über vergängliche und unvergängliche Ziele?«

»Ganz genau. Als einen ersten Schritt, Ihr Latein zu perfektionieren, schlage ich vor, dass Sie Ihre Einträge ab sofort in dieser Sprache vornehmen.«

Bento nickte.

»Und noch eins«, fuhr van den Enden fort. »Clara Maria und ich sind nun so weit, unter Ihrer Anleitung Hebräisch zu lernen. Wäre es Ihnen angenehm, nächste Woche damit zu beginnen?«

»Sehr gerne«, gab Bento zur Antwort. »Es wäre mir eine große Freude und böte mir außerdem die Möglichkeit, meine große Schuld an Sie zurückzuzahlen.«

»Nun, dann sollten wir vielleicht über pädagogische Methoden nachdenken. Haben Sie Erfahrung im Unterrichten?«

»Vor drei Jahren bat mich Rabbi Mortera, ihm bei seinem Hebräischunterricht für die jüngeren Schüler zu assistieren. Ich habe mir viele Gedanken zu den Fallstricken der hebräischen Sprache aufgeschrieben und hoffe, eines Tages eine hebräische Grammatik zu verfassen.«

»Ausgezeichnet. Seien Sie versichert, dass Sie eifrige und aufmerksame Schüler haben werden.«

»Wie der Zufall es will«, fügte Bento hinzu, »wurde heute Nachmittag eine seltsame Anfrage nach pädagogischer Hilfe an mich herangetragen. Vor ein paar Stunden suchten mich zwei verzweifelte Männer auf und versuchten, mich als eine Art Berater zu gewinnen.« Bento erzählte von seinem Zusammentreffen mit Jacob und Franco.

Van den Enden lauschte gespannt, und als Bento geendet hatte, sagte er: »Ich werde ein weiteres Wort zu den Lateinvokabeln hinzufügen, die ich Ihnen heute als Hausaufgabe gegeben habe. Notieren Sie bitte: caute. Die Bedeutung können Sie von dem spanischen Wort cautela ableiten.«

»Ja, das heißt ›Vorsicht‹ – cautela auf Portugiesisch. Aber warum caute?«

»Auf Lateinisch bitte.«

»Sed cur caute?«

»Ich habe einen Spion, der mir erzählt, dass Ihre jüdischen Freunde nicht erbaut davon sind, dass Sie bei mir studieren. Ganz und gar nicht. Und sie sind nicht erbaut davon, dass Sie sich zunehmend von Ihrer Gemeinde distanzieren. Caute, mein Junge. Passen Sie auf, dass Sie ihnen nicht weiteren Kummer bereiten. Vertrauen Sie Ihre tieferen Gedanken und Zweifel keinem Fremden an. Nächste Woche werden wir sehen, ob Epikur Ihnen nützliche Ratschläge geben kann.«





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