Save You (Maxton Hall, #2)

Mein Blick wandert von Ruby, von der inzwischen nur noch der Haaransatz unter der Decke hervorschaut, zu dem Handy und wieder zurück. Sie wird er sicher nicht vermissen, da bin ich mir ziemlich sicher.

?Wenn noch irgendetwas sein sollte, ich bin nebenan?, sage ich, auch wenn ich wei?, dass sie das Angebot ohnehin nicht annehmen wird. Dann stehe ich mit einem extralauten Seufzen auf und greife dabei blitzschnell nach dem Handy. Ich schiebe es in den ?rmel meines lockeren Strickpullovers und gehe auf Zehenspitzen zurück in mein eigenes Zimmer.

Als ich die Tür leise hinter mir schlie?e, atme ich auf – und habe augenblicklich ein schlechtes Gewissen. Mein Blick zuckt zur Wand, als k?nnte Ruby mich von ihrem Bett aus sehen. Wahrscheinlich wird sie nie wieder ein Wort mit mir sprechen, wenn sie herausfindet, dass ich ihre Privatsph?re so missachtet habe. Gleichzeitig ist es als Schwester doch auch meine Pflicht, herauszufinden, wie ich ihr helfen kann. Oder?

Ich gehe zu meinem Schreibtisch und lasse mich auf dem knarrenden Stuhl nieder. Dann hole ich das Handy aus meinem ?rmel hervor. Meine Schwester macht ein riesiges Geheimnis daraus, was bei ihr in der Schule abl?uft, aber natürlich wei? ich, mit was für Leuten sie auf die Maxton Hall geht: Jungs und M?dchen, deren Eltern Adelige, Schauspieler, Politiker oder Unternehmer sind und in unserem Land so viel Einfluss haben, dass sie nicht selten in den Nachrichten Erw?hnung finden. Ich folge schon seit einer Weile ein paar von Rubys Mitschülern auf Instagram und bekomme auch mit, welche Gerüchte über sie kursieren. Allein die Vorstellung, was diese Leute Ruby angetan haben k?nnten, dreht mir den Magen um.

Ich z?gere nur einen kurzen Moment, dann entsperre ich Rubys Handy und tippe die Anrufliste an. Nicht nur Lin hat sie kontaktiert, auch eine Nummer, die nicht in ihrem Handy eingespeichert ist, taucht mehrfach auf. Kurzerhand rufe ich Lins Kontakt auf – immerhin ist sie die einzige Person von Rubys omin?ser Schule, die ich pers?nlich kenne. Ich hebe den H?rer z?gerlich an mein Ohr. Das Freizeichen t?nt nur einmal, dann wird abgehoben.

?Ruby?, h?re ich Lin atemlos sagen. ?Endlich. Wie geht es dir??

?Lin – ich bin’s, Ember?, unterbreche ich sie, bevor sie weitersprechen kann.

?Ember? Was …?

?Ruby geht es nicht besonders gut.?

Lin verstummt für einen Moment. Dann sagt sie langsam: ?Das ist verst?ndlich, nach dem, was passiert ist.?

?Was ist passiert??, bricht es aus mir hervor. ?Was zum Henker ist passiert, Lin? Ruby redet nicht mit mir, und ich mache mir unglaubliche Sorgen. Hat Beaufort ihr etwas angetan? Wenn ja, werde ich diese Kr?te …?

?Ember.? Jetzt ist sie diejenige, die mich unterbricht. ?Wovon redest du da??

Ich furche die Stirn. ?Wovon sprichst du denn??

?Ich spreche von der Tatsache, dass Ruby mir am Mittwoch schreibt, dass sie sich mit James Beaufort vertragen hat, und ich heute erfahre, dass seine Mutter am Montag davor gestorben ist.?





2


Ruby

Ember klopft schon wieder an meine Tür.

Ich wünschte, ich h?tte die Energie, sie wegzuschicken. Ich kann verstehen, dass sie sich Sorgen macht, aber ich fühle mich gerade einfach nicht in der Lage, mich zu irgendetwas aufzuraffen oder mit irgendjemandem zu sprechen. Selbst wenn dieser Jemand meine Schwester ist.

?Ruby, Lin ist am Telefon.?

Stirnrunzelnd ziehe ich die Decke von meinem Gesicht und drehe mich um. Ember steht vor meinem Bett und h?lt in ihrer ausgestreckten Hand ein Handy. Ich kneife die Augen zusammen. Das ist mein Handy. Und auf dem Display leuchtet mir Lins Name entgegen.

?Du hast mein Handy genommen??, frage ich matt. Ich spüre, wie tief in mir Emp?rung aufkeimen will, aber das Gefühl verschwindet genau so schnell, wie es gekommen ist. In den letzten Tagen hat sich mein K?rper wie ein schwarzes Loch angefühlt, das jegliche Emotionen verschlungen hat, bevor sie überhaupt die Gelegenheit hatten, bei mir anzukommen.

Nichts dringt mehr richtig zu mir durch, auf nichts habe ich Lust. Aus meinem Bett aufzustehen strengt mich jedes Mal so an, als w?re ich einen Marathon gelaufen, die Treppe nach unten bin ich seit drei Tagen nicht gegangen. Seit ich die Maxton Hall besuche, habe ich noch keinen Tag im Unterricht gefehlt, aber allein die Vorstellung, mich zu duschen, anzuziehen und sechs bis zehn Stunden unter Menschen zu sein, überfordert mich. Mal ganz abgesehen davon, dass ich es nicht ertragen k?nnte, James zu sehen. Wahrscheinlich würde ich bei seinem Anblick in mich zusammenfallen wie eine verwelkte Blume. Oder ich würde in Tr?nen ausbrechen.

?Sag ihr, ich rufe sie zurück?, murmle ich. Meine Stimme ist kratzig, weil ich in den letzten Tagen so wenig geredet habe.

Ember rührt sich nicht vom Fleck. ?Du solltest aber jetzt mit ihr reden.?

?Ich m?chte jetzt aber nicht mit ihr reden.? Was ich m?chte, ist ein bisschen Zeit, um wieder auf die Beine zu kommen. Drei Tage sind nicht genug, um mich Lin und ihren Fragen zu stellen. Ich habe ihr am Mittwoch lediglich eine kurze Nachricht geschrieben. Sie wei? nicht, was genau zwischen mir und James in Oxford geschehen ist, und ich habe im Moment nicht die Kraft, ihr davon zu erz?hlen. Oder von dem, was danach passiert ist. Am liebsten würde ich die ganze letzte Woche vergessen und so tun, als w?re alles wie immer. Leider ist das nicht m?glich, solange ich es nicht einmal schaffe, aus meinem Bett aufzustehen.

?Bitte, Ruby?, sagt Ember und sieht mich eindringlich an. ?Ich wei? nicht, warum du so traurig bist und warum du nicht mit mir darüber sprichst, aber … Lin hat mir gerade etwas erz?hlt. Und ich glaube, ihr solltet wirklich reden.?

Ich starre Ember finster an, doch als ich ihren entschlossenen Gesichtsausdruck sehe, wei? ich, dass ich verloren habe. Sie wird nicht aus meinem Zimmer verschwinden, solange ich nicht mit Lin gesprochen habe. In manchen Dingen sind wir uns einfach viel zu ?hnlich, und Sturheit geh?rt definitiv dazu.

Resigniert strecke ich meine Hand aus und nehme das Handy entgegen.

?Lin??

?Ruby, Sü?e, wir müssen dringend reden.?

Ihr Tonfall verr?t mir, dass sie es wei?.

Sie wei?, was James getan hat.

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