Das Spinoza-Problem

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RIJNSBURG UND AMSTERDAM, 1662


Während Bento nach Amsterdam trottete, lenkte er seine Gedanken bewusst von der Vergangenheit ab: Er löste sich von nostalgischen Bildern mehrerer Rosh Hashanahs, die er mit seiner Familie begangen hatte und die ihm die Aschkenaser Juden mit ihrer Taschlich-Zeremonie wieder in Erinnerung gerufen hatten. Er wandte sich dem zu, was vor ihm lag. In einer knappen Stunde würde er Simon wiedersehen, den lieben, großzügigen Simon, seinen glühendsten Unterstützer. Es war gut, dass Simon so nahe wohnte. So konnten sie einander gelegentlich besuchen. Aber es war auch gut, dass Simon nicht noch näher wohnte, zumal er bei mehreren Gelegenheiten zu erkennen gegeben hatte, die Freundschaft mit Bento vertiefen zu wollen. Ein Vorfall bei Simons letztem Besuch in Rijnsburg fiel ihm ein.

»Bento«, sagt Simon, »auch wenn wir enge Freunde sind, habe ich dennoch den Eindruck, als würden Sie sich mir entziehen. Tun Sie mir den Gefallen, mein Freund, und berichten Sie mir genau, wie Sie Ihre Tage verbringen. Den gestrigen, zum Beispiel.«

»Gestern war wie jeder andere Tag. Ich begann den Tag damit, Gedanken zu sammeln und aufzuschreiben, die sich während der Nacht in meinem Kopf angesammelt hatten, und die folgenden vier Stunden beschäftigte ich mich mit dem Schleifen meiner Linsen.«

»Was genau machen Sie? Erzählen Sie mir Schritt für Schritt, wie Sie vorgehen.«

»Was soll ich Ihnen erzählen? Ich werde es Ihnen zeigen. Aber es braucht Zeit.«

»Ich wünsche mir nichts mehr, als an Ihrem Leben teilzuhaben.«

»Begleiten Sie mich in das andere Zimmer.«

Im Labor deutet Bento auf eine große Glasplatte. »Damit beginne ich. Die Platte holte ich gestern in der Glasfabrik ab, die nur einen Kilometer von hier entfernt ist.« Er nimmt eine Bügelsäge in die Hand. »Sie ist scharf, aber nicht scharf genug. Ich reibe sie jetzt mit Öl und Diamantsand ab.« Bento schneidet ein rundes, drei Zentimeter großes Stück heraus. »Im nächsten Schritt schleife ich dieses Stück auf die richtige Wölbung und den richtigen Winkel. Zuerst fixiere ich es unverrückbar auf der Matrize – und zwar so.« Bento trägt mit größter Sorgfalt Schwarzpech auf und schiebt das Werkstück in Position. »Und nun schleife ich auf der Drehbank erst einmal mit Feldspat und Quarz vor.« Nach zehn Minuten Schleifen legt Bento das Glas in einen Formkörper auf einer schnell drehenden Holzscheibe. »Und zum Schluss kommt der Feinschliff. Dafür verwende ich eine Mischung aus Korund und Zinnoxid. Ich zeige Ihnen nur schnell den Anfang, sonst langweile ich Sie noch mit dem langen, ermüdenden Schleifvorgang.«

Er dreht sich zu Simon um: »Jetzt wissen Sie, wie ich meine Vormittage verbringe und auch, woher die Brillen kommen.«

Simon antwortet: »Wenn ich Ihnen zusehe, wohnen zwei Seelen in meiner Brust. Einerseits müssen Sie wissen, dass ich Ihre Geschicklichkeit und Ihre ausgefeilten Techniken sehr bewundere, doch andererseits beklagt sich die andere, wichtigere Seele lautstark: ›Überlass das den Kunsthandwerkern.‹ Jede Gemeinde in Europa hat ihre Kunsthandwerker. Es gibt Heerscharen von Kunsthandwerkern, aber wo in aller Welt gibt es einen zweiten Bento Spinoza? Machen Sie das, was nur Sie können, Bento. Bringen Sie das philosophische Werk zu Ende, auf das die ganze Welt wartet. All dieser Lärm, dieser Staub, diese schlechte Luft, diese Gerüche, all diese verschwendete kostbare Zeit. Bitte, ich flehe Sie noch einmal an, erlauben Sie mir, Sie von der Last dieses Handwerks zu befreien. Erlauben Sie mir, Ihnen ein lebenslanges, jährliches Stipendium zu gewähren – jede Summe, die Sie nennen –, damit Sie sich mit voller Kraft dem Philosophieren widmen können. Ich kann es mir ohne Weiteres leisten, und es würde mir größtes Vergnügen bereiten, Ihnen diese Hilfe zu gewähren.«

»Simon, Sie sind ein großzügiger Mann. Und Sie sollen wissen, dass ich Sie für Ihre Generosität verehre. Aber meine Bedürfnisse sind gering und leicht zu befriedigen, und zu viel Geld wird meiner Konzentration eher hinderlich als förderlich sein. Und dazu kommt – und, Simon, Sie mögen dies für unglaubwürdig halten, aber glauben Sie mir … Linsenschleifen ist gut fürs Denken. Ja, an der Drehbank bin ich sehr konzentriert, ich muss auf den Winkel und den Radius des Glases achten, auf das heikle Polieren, aber während ich daran arbeite, sprießt im Hintergrund mein Denken mit einer solchen Geschwindigkeit, dass ich oft eine Linse fertig habe und dann, mirabile dictu, entdecke, dass ich neue Lösungen für dornige, philosophische Argumente parat habe. Ich oder wenigstens das aufmerksame Ich wird anscheinend nicht gebraucht. Es ist nicht unähnlich dem Phänomen von Problemen, die in Träumen gelöst werden, wovon viele unserer Vorfahren berichteten. Abgesehen davon fasziniert mich die Wissenschaft der Optik. Im Augenblick entwickle ich eine vollkommen andere Methode, dünne Teleskoplinsen zu schleifen, was, wie ich glaube, ein großer Fortschritt sein wird.«

Die Unterhaltung hatte damit geendet, dass Simon Bentos Hand mit beiden Händen ergriffen und sie überlange gedrückt gehalten hatte, während er sagte: »Sie werden mir nicht entkommen. Ich werde meine Versuche nicht aufgeben, Ihnen die Arbeit zu erleichtern. Sie sollen wissen, dass mein Angebot so lange gilt, wie ich lebe.«

Das war der Augenblick, in dem Bento dachte, dass es gut war, dass Simon nicht allzu nah wohnte.

In Amsterdam wartete Simon Joosten de Vries auf einer Bank an der Singel auf den Besuch seines Freundes. Simon, der Sohn wohlhabender Kaufleute, wohnte ein paar Straßen von van den Enden entfernt in einem sehr schönen dreistöckigen Haus, doppelt so groß wie die benachbarten Häuser, welche den Kanal säumten. Simon bewunderte Bento nicht nur, sondern ähnelte ihm auch von der Erscheinung her – zerbrechlich, zartgliedrig, mit schönen, zarten Gesichtszügen und einer ausgesprochen würdevollen Haltung.

Als die Sonne hinter dem Horizont verschwand und der leuchtend orangene Himmel grau wie Holzkohle wurde, lief Simon ungeduldig vor seinem Haus auf und ab und sorgte sich zunehmend um den Verbleib seines Freundes. Die Trekschuit hätte schon vor einer Stunde ankommen müssen.

Plötzlich entdeckte er Bento zwei Häuserblocks entfernt, wie er auf der Singel auf ihn zukam. Simon wedelte mit den Armen, eilte ihm entgegen und ließ es sich nicht nehmen, die schwere Schultertasche mit den Notizbüchern und den frisch geschliffenen Linsen zu tragen. Kaum waren sie im Haus, führte Simon seinen Gast an den gedeckten Tisch mit Roggenbrot, Käse und einem frisch gebackenen, würzigen Oudewijvenkoek (Altweiberkuchen), einer nordholländischen Delikatesse mit Anis.

Während Simon Kaffee kochte, ging er den Plan für den folgenden Tag durch. »Der Philosophie-Club trifft sich hier gegen sieben Uhr abends. Ich rechne mit zwölf Mitgliedern, die allesamt die zehn Seiten gelesen haben werden, die Sie mir mit der Post geschickt haben. Ich habe zwei Kopien anfertigen lassen und die Teilnehmer gebeten, sie an einem Tag zu lesen und anschließend an die anderen weiterzureichen. Und am Nachmittag habe ich ein Geschenk vom Philosophie-Club für Sie, das Sie bestimmt nicht ablehnen werden. Ich habe bei zwei Buchhändlern einige interessante Bände entdeckt – bei Abraham de Wees und Lubbert Meyndertsz – und werde Sie begleiten, damit Sie aus verschiedenen durchaus schmackhaften Menüs das geeignetste für sich heraussuchen können: Vergil, Hobbes, Euklid oder Cicero.«

Dieses Angebot lehnte Bento nicht ab; seine Augen leuchteten sogar auf. »Simon, ich danke Ihnen. Sie sind zu großzügig.«

Ja, Bento hatte tatsächlich eine Schwäche, und Simon hatte sie entdeckt. Bento liebte Bücher – nicht nur zum Lesen, sondern auch deren Besitz. Obwohl er alle anderen Geschenke immer höflich zurückwies, konnte er einem wertvollen Buch nicht widerstehen, und Simon und viele der anderen Kollegianten stellten nach und nach eine schöne Bibliothek für ihn zusammen, die das große Bücherregal an einer Wand seines Wohnzimmers in Rijnsburg inzwischen fast ausfüllte. Manchmal, wenn Bento in der Nacht nicht schlafen konnte, ging er an sein Regal, und eine wohlige Wärme durchströmte ihn, wenn er die Bücher betrachtete. Manchmal sortierte er sie um, manchmal nach Größe, manchmal nach der Thematik oder einfach nach dem Alphabet, und manchmal atmete er nur den Duft der Bücher ein oder nahm sie in den Arm, fühlte ihr Gewicht oder schwelgte in dem haptischen Gefühl der vielen verschiedenen Einbände unter seiner Handfläche.

»Aber bevor wir die Bücher einkaufen«, fuhr Simon fort, »gibt es eine Überraschung. Ein Besucher! Ich hoffe, er wird Ihnen willkommen sein. Hier, lesen Sie diesen Brief, der vergangene Woche eintraf.«

Bento öffnete einen Brief, der eng aufgerollt und mit Bindfaden verschnürt war. Die erste Zeile war auf Portugiesisch geschrieben, und Bento erkannte Francos Handschrift sofort wieder.

»Mein lieber Freund, es ist schon viel zu lange her.« An dieser Stelle schwenkte der Brief zu Bentos größtem Erstaunen in ein ausgezeichnetes Hebräisch um. »Ich habe vieles mit Ihnen zu besprechen. Dazu gehört vor allem, dass ich inzwischen ein ernsthafter Student und außerdem Vater geworden bin. Ich hüte mich davor, zu viel zu schreiben, und hoffe nur, dass Ihr Freund eine Möglichkeit findet, dass wir uns treffen können.«

»Wann ist das angekommen, Simon?«

»Ungefähr vor einer Woche. Der Überbringer war ein Ausbund an Heimlichtuerei: Kaum hatte ich die Tür geöffnet, schlüpfte er auch schon herein. Er übergab mir sofort den Brief, und nachdem er die Tür abermals einen Spalt breit geöffnet und vorsichtig einen Blick nach rechts und links auf die Straße geworfen hatte, um sich zu vergewissern, dass er nicht gesehen wurde, schlüpfte er ebenso schnell wieder hinaus. Er hinterließ keinen Namen, sagte aber, Sie hätten ihm gesagt, er könne mich als Kontaktperson benutzen. Ich vermute, es ist der Mann, der Ihnen nach dem Mordversuch so sehr geholfen hat?«

»Ja, er heißt Franco, aber selbst das muss geheim bleiben. Er geht ein hohes Risiko ein – denken Sie daran, dass die Exkommunikation es einem jedem Juden ausdrücklich verbietet, mit mir zu sprechen. Er ist meine einzige Verbindung zur Vergangenheit, und Sie sind meine einzige Verbindung zu ihm. Ich würde ihn sehr gerne treffen.«

»Gut. Ich nahm mir bereits die Freiheit, ihm zu berichten, dass Sie heute in Amsterdam wären, und seine Augen strahlten so sehr, dass ich ihm spontan vorschlug, morgen Vormittag herzukommen, um Sie zu sehen.«

»Was hat er geantwortet?«

»Er sagte, es gebe Hindernisse, aber er täte alles Menschenmögliche, um irgendwann vor Mittag zu kommen.«

»Danke, Simon.«

Am folgenden Morgen schallte lautes Klopfen an der Tür durch das Haus. Als Simon öffnete, schlüpfte Franco in einem Umhang und mit einer Kapuze, die seinen Kopf und fast sein ganzes Gesicht verhüllte, ins Haus. Simon führte ihn zu Bento, der im vorderen Salon mit Blick auf den Kanal wartete, und ließ die beiden dann diskret allein. Franco strahlte, packte Bento mit beiden Händen an der Schulter und rief: »Ach, Bento, was für ein Segen, Sie wiederzusehen.«

»Und auch für mich ist es ein Segen, Sie zu sehen. Nehmen Sie Ihren Mantel ab, damit ich Sie ansehen kann, Franco.« Bento ging um ihn herum. »Gut, gut, gut. Sie haben sich verändert: Sie haben zugenommen; Ihr Gesicht wirkt voller, gesünder. Aber dieser Bart und diese schwarze Kleidung – Sie sehen wie ein Talmud-Schüler aus. Und wie gefährlich ist es für Sie, hier zu sein? Und wie ist es, verheiratet zu sein? Und wie fühlt es sich als Vater? Und sind Sie zufrieden?«

»So viele Fragen!«, lachte Franco. »Auf welche soll ich zuerst antworten? Vielleicht auf die letzte. Hätte Ihr Freund Epikur nicht diese als die wichtigste Frage angesehen? Ja, ich bin sehr zufrieden. Mein Leben hat sich sehr zum Besseren verändert. Und Sie selbst, Bento? Sind Sie zufrieden?«

»Auch ich bin zufriedener als je zuvor. Wie Simon Ihnen vielleicht schon erzählt hat, lebe ich in Rijnsburg, einem kleinen, ruhigen Dorf, und ich lebe genauso, wie ich es mir gewünscht habe – für mich allein mit nur wenigen Ablenkungen. Ich denke, ich schreibe, und niemand versucht, mich zu erstechen. Was könnte besser sein? Aber wie steht es mit meinen anderen Fragen?«

»Meine Frau und mein Sohn sind ein wahrer Segen. Sie ist die Seelenverwandte, die ich mir erhofft hatte – und sie entwickelt sich nun obendrein zu einer gebildeten Seelenverwandten. Ich bringe ihr bei, Portugiesisch und Hebräisch zu lesen, und gemeinsam lernen wir Holländisch. Wonach fragten Sie noch? Ach ja, meine Kleidung und mein Gestrüpp hier?« Franco strich sich über den Bart. »Es mag Sie vielleicht erschrecken, aber ich bin jetzt Schüler an Ihrer alten Schule, der Pereira Yeshibah. Rabbi Mortera gewährte mir ein derart großzügiges Stipendium aus der Schatulle der Synagoge, dass ich weder für meinen Onkel noch für irgendjemanden sonst arbeiten muss.«

»Das ist ein seltenes Privileg.«

»Ich hörte Gerüchte, dass Ihnen ein solches Stipendium auch einmal angeboten wurde. Vielleicht wurde es durch einen Wink des Schicksals an mich weitergegeben. Vielleicht werde ich dafür belohnt, dass ich Sie verraten habe.«

»Welchen Grund nannte Ihnen Rabbi Mortera?«

»Als ich ihn fragte: ›Wie habe ich das verdient?‹, überraschte er mich. Er sagte, das Stipendium sei seine Art, die Art der jüdischen Gemeinde, meinen Vater zu ehren. Dessen Ruf und die Reputation seiner langen Linie rabbinischer Vorfahren ist anscheinend viel besser, als ich gedacht hatte. Aber er fügte auch hinzu, dass ich ein vielversprechender Schüler sei, der vielleicht eines Tages in die Fußstapfen seines Vaters treten könne.«

»Und …« Bento holte tief Luft. »Was empfanden Sie bei diesen Worten des Rabbi?«

»Dankbarkeit. Bento Spinoza, Sie machten mich wissensdurstig, und zur Freude des Rabbis tauchte ich in ein erquickliches Studium des Talmud und der Thora ein.«

»Ich verstehe. Äh … nun … Sie haben viel erreicht. Das Hebräisch in Ihrem Brief ist ausgezeichnet.«

Eine kurze Stille trat ein. Beide öffneten gleichzeitig den Mund, um weiterzusprechen, und hielten dann inne. Nach kurzem Schweigen fragte Franco: »Bento, als ich Sie das letzte Mal sah, waren Sie in großer Furcht. Sie erholten sich schnell?«

Bento nickte. »Ja, und zum nicht geringen Teil Ihnen zum Dank. Sie sollen wissen, dass ich den zerfetzten Mantel auch in Rijnsburg immer noch gut sichtbar aufgehängt habe. Das war ein hervorragender Rat.«

»Erzählen Sie mir mehr von Ihrem Leben.«

»Nun, was soll ich sagen? Den halben Tag schleife ich Glas, und die übrige Zeit denke, lese und schreibe ich. Abgesehen davon gibt es wenig zu erzählen. Ich lebe vollkommen in meinem Geist.«

»Und diese junge Frau, die mich damals zu Ihrem Zimmer hinaufbrachte? Die, die Ihnen so viel Kummer bereitete?«

»Sie und mein Freund Dirk wollen heiraten.«

Eine kurze Stille folgte. Franco fragte: »Und? Erzählen Sie mir mehr darüber.«

»Wir bleiben Freunde, aber sie ist gläubige Katholikin, und er wird zum katholischen Glauben konvertieren. Ich denke, dass unsere Freundschaft leiden wird, sobald ich meine Ansichten über Religion veröffentlicht habe.«

»Und Ihre Bedenken hinsichtlich der Macht Ihrer Leidenschaften?«

»Nun …«, Bento zögerte. »Seit ich sie zum letzten Mal sah, genieße ich die Ruhe.«

Wieder entstand eine Stille, die Franco schließlich brach.

»Sie merken heute bestimmt, dass sich zwischen uns etwas verändert hat.«

Bento zuckte verwirrt die Achseln. »Was meinen Sie damit?«

»Ich meine die Gesprächspausen. Vorher gab es bei uns noch nie Gesprächspausen. Wir hatten einander immer viel zu viel zu sagen – wir plauderten ohne Pause. Es gab keinen einzigen Augenblick der Stille.«

Bento nickte.

»Mein Vater, gesegnet sei sein Name«, fuhr Franco fort, »sagte immer, dass, wenn über etwas Bedeutendes nicht gesprochen wird, dann kann auch sonst nichts von Bedeutung gesagt werden. Stimmen Sie mir zu, Bento?«

»Ihr Vater war ein weiser Mann. Etwas Bedeutendes? Was meinen Sie?«

»Zweifellos hat es mit meiner Erscheinung und meiner Begeisterung für meine jüdische Ausbildung zu tun. Ich vermute, dass Sie dies beunruhigt, und nun wissen Sie nicht, was Sie sagen sollen.«

»Ja, in Ihren Worten liegt Wahrheit. Aber … nun ja … ich weiß nicht, was ich …«

»Bento, ich bin nicht daran gewöhnt, dass Sie nach Worten suchen. Wenn ich für Sie sprechen darf, so glaube ich, dass dieses ›Bedeutende‹ Ihr Missfallen meiner Studienrichtung gegenüber ist, doch gleichzeitig sind Sie mir herzlich zugetan, möchten meine Entscheidung respektieren und nichts sagen, was mir Unbehagen bereitet.«

»Gut gesagt, Franco. Ich konnte die richtigen Worte nicht finden. Sie wissen, dass Sie in solchen Dingen ungewöhnlich gut sind.«

»In solchen Dingen?«

»Ich meine, die Nuancen dessen zu verstehen, was zwischen Leuten gesagt und nicht gesagt wird. Sie verblüffen mich mit Ihrem Scharfsinn.«

Franco beugte den Kopf. »Danke, Bento. Das hat mir mein seliger Vater vererbt. Ich lernte es von Kindesbeinen an.«

Erneutes Schweigen.

»Bitte, Bento, versuchen Sie, mir zu sagen, was Sie bis jetzt über unser heutiges Treffen denken.«

»Ich will es versuchen. Es stimmt, etwas ist anders. Wir haben uns verändert, und es fällt mir ungewöhnlich schwer, damit zurechtzukommen. Sie müssen mir helfen, es aufzulösen.«

»Am besten wird es sein, wenn Sie einfach darüber sprechen, auf welche Weise wir uns verändert haben. Von Ihrer Perspektive aus, meine ich.«

»Bis jetzt war ich es, der der Lehrmeister war, und Sie der Schüler, der meine Ansichten teilte und sein Leben mit mir im Exil verbringen wollte. Jetzt ist alles anders geworden.«

»Weil ich mich jetzt mit dem Studium der Thora und des Talmud beschäftige?«

Bento schüttelte den Kopf. »Es ist mehr als das Studium: Ihre genauen Worte waren ›erquickliches Studium‹. Und Sie hatten Recht mit Ihrer Diagnose meines Herzens. Ich hatte tatsächlich Angst, Sie zu verletzen oder Ihre Freude zu mindern.«

»Glauben Sie, dass unsere Wege sich trennen?«

»Ist es nicht so? Selbst wenn Sie keine Familie hätten, die Sie hält, würden Sie sich denn heute noch dafür entscheiden, meinen Weg mit mir zu gehen?«

Franco zögerte und dachte lange nach, bevor er antwortete: »Meine Antwort, Bento, ist: Ja und nein. Ich glaube, ich würde nicht Ihren Lebensweg einschlagen. Und auch wenn das so ist, haben sich unsere Wege nicht getrennt.«

»Wie kann das sein? Erklären Sie es mir.«

»Ich teile noch immer voll und ganz Ihre Kritik zu religiösem Aberglauben, die Sie in den Gesprächen mit Jacob und mir äußerten. Insoweit stimme ich mit Ihnen vollkommen überein.«

»Und trotzdem empfinden Sie große Freude bei Ihrem Studium abergläubischer Texte?«

»Nein, das ist nicht richtig. Ich habe Freude am Vorgang des Studierens, nicht immer am Inhalt dessen, was ich studiere. Wissen Sie, mein Lehrmeister, es gibt einen Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen.«

»Bitte erklären Sie mir das, mein Lehrmeister.« Bento, der nun sehr erleichtert war, grinste übers ganze Gesicht, streckte den Arm aus und zerzauste Francos Haar.

Franco erwiderte sein Grinsen, hielt einen Augenblick inne und genoss Bentos Berührung. Dann fuhr er fort: »Mit Vorgang meine ich, dass ich große Freude daran habe, mich mit intellektuellen Studien zu befassen. Das Studium des Hebräischen gefällt mir sehr, und ich genieße es, dass sich die ganze antike Welt vor mir auftut. Mein Studium des Talmud ist viel interessanter, als ich es mir vorgestellt habe. Erst kürzlich diskutierten wir eine Geschichte von Rabbi Yohanan …«

»Welche Geschichte?«

»Die Geschichte, dass er einen anderen Rabbiner heilte, indem er ihm die Hand reichte. Und als er selbst einmal krank wurde, besuchte ihn ein anderer Rabbiner und fragte: ›Sind dir deine Leiden willkommen?‹ Und Rabbi Yohanan gab zur Antwort: ›Nein, weder sie noch ihr Lohn.‹ Und so heilte der andere Rabbiner dann Rabbi Yohanan, indem er ihm seine Hand reichte.«

»Ja, ich kenne diese Geschichte. Und in welcher Hinsicht fanden Sie sie interessant?«

»In unserer Diskussion warfen wir viele Fragen auf. Zum Beispiel: Warum heilte Rabbi Yohanan sich nicht einfach selbst?«

»Und natürlich diskutierte die Klasse das Argument, dass ein Gefangener sich nicht selbst befreien kann und dass der Lohn der Leiden im Jenseits liegt.«

»Ja, ich weiß, das ist sehr vertraut, vielleicht ermüdend für Sie, aber für jemanden wie mich sind solche Diskussionen anregend. Wo sonst hätte ich wohl die Gelegenheit, mit Gesprächen wie diesen der eigenen Seele auf den Grund zu gehen? Einige in meiner Klasse sagten das eine, andere widersprachen, wieder andere fragten sich, weshalb bestimmte Worte verwendet wurden, wo ein anderes Wort vielleicht größere Klarheit gebracht hätte. Unser Lehrer ermutigt uns, jedes winzige Bruchstück an Information im Text zu überprüfen.

Und um ein weiteres Beispiel zu nennen«, fuhr Franco fort: »Vergangene Woche diskutierten wir eine Geschichte über einen berühmten Rabbiner, der dem Tod nahe war, höllische Schmerzen litt, aber durch die Gebete seiner Schüler und seiner Mit-Rabbiner am Leben erhalten wurde. Seine Dienerin hatte Mitleid mit ihm und warf einen Krug vom Dach, der mit einem solchen Getöse zerbrach, dass sie erschraken und zu beten aufhörten. In genau diesem Augenblick starb der Rabbiner.«

»Ach ja – Rabbi Yehudah ha-Nasi. Und ich bin sicher, dass Sie auch darüber diskutierten, ob die Dienerin richtig gehandelt oder sich des Totschlags schuldig gemacht hatte und auch ob die anderen Rabbiner unbarmherzig gewesen waren, indem sie ihn am Leben erhielten und so seine Ankunft im paradiesischen Jenseits verzögerten.«

»Ich kann mir Ihre Antwort darauf vorstellen, Bento. Ich kenne Ihre Einstellung zum Glauben an ein Leben nach dem Tode nur zu gut.«

»Genau. Die fundamentale Prämisse für ein Leben nach dem Tode ist mit Mängeln behaftet. Aber Ihre Klasse war nicht bereit, diese Prämisse in Frage zu stellen.«

»Ja, Sie haben Recht, da gibt es Grenzen. Aber trotzdem ist es ein Privileg, ja eine Freude, stundenlang mit anderen zusammenzusitzen und so gewichtige Themen zu diskutieren. Und unser Lehrer bringt uns bei, wie wir argumentieren sollen. Wenn ein Argument mehr als offensichtlich scheint, lehrt man uns zu fragen, weshalb der Schreiber es überhaupt erwähnte – vielleicht gab es ja ein verborgenes Argument, das hinter diesen Worten lauerte. Wenn wir vollkommen damit zufrieden sind, alles verstanden zu haben, lernen wir, das darunterliegende allgemeine Prinzip aufzuspüren. Wenn ein Argument irrelevant ist, dann lernen wir, uns zu fragen, weshalb der Autor es verwendete. Kurz gesagt, Bento, das Studium des Talmud lehrt mich, wie ich denken soll, und ich glaube, dass das auch für Sie selbst gegolten haben mag. Vielleicht war es das Studium des Talmud, das Ihren Geist so scharf geschliffen hat.«

Bento nickte. »Ich kann nicht abstreiten, dass es wertvoll für mich war, Franco. Im Rückblick hätte ich vielleicht ein weniger weitschweifiges, dafür aber vernünftigeres Vorgehen bevorzugt. Euklid, zum Beispiel, kommt direkt auf den Punkt und trägt nicht mit rätselhaften und oft einander widersprechenden Geschichten zusätzlich zur Verwirrung bei.«

»Euklid? Der Erfinder der Geometrie?«

Bento nickte.

»Euklid behalte ich mir für meine nächste, meine weltliche Ausbildung vor. Aber im Augenblick tut’s der Talmud auch. Zum Beispiel liebe ich Geschichten. Sie geben dem Unterricht Leben und Tiefe. Alle Leute lieben Geschichten.«

»Nein, Franco, nicht alle. Berücksichtigen Sie Ihre Beweisführung zu dieser Aussage. Das ist eine unbestätigte Schlussfolgerung, von der ich persönlich weiß, dass sie falsch ist.«

»Ah, Sie mögen keine Geschichten. Noch nicht einmal als Kind?«

Bento schloss die Augen und rezitierte: »›Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und hatte kindische Anschläge …‹«

»›Da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindisch war.‹ Der erste Brief des Paulus an die Korinther.«

»Erstaunlich! Sie sind inzwischen so schnell, so selbstsicher, Franco. So ganz anders als dieser verstörte, ungebildete junge Mann, der damals gerade mit dem Schiff aus Portugal gekommen war.«

»Ungebildet für jüdische Verhältnisse. Aber Sie dürfen nicht vergessen, dass wir Conversos eine zwar erzwungene, aber umfassende katholische Ausbildung genossen haben. Ich habe jedes Wort des Neuen Testaments gelesen.«

»Das hatte ich tatsächlich vergessen. Das heißt, dass Sie bereits Ihre zweite Ausbildung begonnen haben. Das ist gut. Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament liegt viel Weisheit. Besonders bei Paulus. Nur einen Vers vorher drückt er genau meine Ansicht zu Geschichten aus: ›Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.‹«

Franco hielt inne und wiederholte für sich selbst: »›Stückwerk?‹, ›Das Vollkommene‹?«

»Das ›Vollkommene‹«, sagte Bento, »ist die moralische Wahrheit. Das ›Stückwerk‹ ist die Verpackung – in diesem Fall die Geschichte, die nicht mehr nötig ist, sobald die Wahrheit geliefert wurde.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich Paulus als Vorbild für das Leben annehmen kann. Sein Leben, so wie es gelehrt wird, scheint aus dem Gleichgewicht geraten zu sein. So ernst, so fanatisch, so freudlos, so abhold allen weltlichen Freuden. Bento, Sie gehen mit sich selbst so unbarmherzig um. Warum sich des Vergnügens an einer guten Geschichte berauben, eines so harmlosen, so allgemeinen Vergnügens? In welcher Kultur gibt es keine Geschichten?«

»Ich erinnere mich an einen jungen Mann, der über Geschichten von Wundern und Prophezeiungen schimpfte. Ich erinnere mich an einen aufgebrachten, sprunghaften und rebellischen jungen Mann, der sich heftig gegen Jacobs Strenggläubigkeit auflehnte. Ich erinnere mich an seine Reaktionen auf die Gottesdienste in der Synagoge. Obwohl er kein Hebräisch gelernt hatte, folgte er der portugiesischen Übersetzung der Thora und geriet über deren Geschichten außer sich; er sprach über den Wahnsinn in den jüdischen und katholischen Gottesdiensten. Ich erinnere mich, dass er mich fragte: ›Warum ist die Zeit der Wunder vorbei? Warum hat Gott kein Wunder vollbracht und meinen Vater gerettet?‹ Und derselbe junge Mann litt unsäglich darunter, dass sein Vater sein Leben für eine Thora geopfert hatte, in der es vor Aberglauben über Wunder und Prophezeiungen nur so wimmelt.«

»Ja, das ist alles richtig. Ich erinnere mich.«

»Und wo sind diese Gefühle nun geblieben, Franco? Jetzt sprechen Sie von nichts anderem als von der Freude, die Sie beim Studium der Thora und des Talmud empfinden. Und dennoch sagen Sie, dass Sie meine Kritik des Aberglaubens immer noch voll und ganz teilen. Wie kann das sein?«

»Bento, es ist dieselbe Antwort – es ist der Vorgang des Studiums, der mir Freude bereitet. Ich nehme den Inhalt nicht sehr ernst. Ich mag die Geschichten, aber ich nehme sie nicht als historische Wahrheiten. Ich achte die Moral, die Botschaften in der Heiligen Schrift über Liebe und Barmherzigkeit, Freundlichkeit und ethisches Verhalten. Und den Rest beachte ich nicht. Außerdem gibt es solche und solche Geschichten. Einige Geschichten über Wunder sind, wie Sie sagen, der Feind der Vernunft. Aber andere Geschichten wecken die Aufmerksamkeit des Schülers, und das halte ich für nützlich, sowohl bei meinen Studien als auch für meinen Unterricht, den ich demnächst halten werde. Eines weiß ich ganz bestimmt – Schüler werden immer an Geschichten interessiert sein, wohingegen es niemals eine große Anzahl von Schülern geben wird, die begierig darauf sind, Euklid und die Geometrie zu studieren. Ach, übrigens, da ich gerade vom Unterrichten spreche, fällt mir ein, was ich Ihnen noch unbedingt sagen wollte! Ich beginne gerade, die Grundlagen der hebräischen Sprache zu unterrichten, und raten Sie, wer unter meinen Schülern ist? Bereiten Sie sich auf einen gehörigen Schrecken vor – Ihr Möchtegern-Attentäter!«

»Ach was! Mein Attentäter! Das ist wirklich ein Schreck! Sie sind der Lehrer meines Attentäters? Was können Sie mir dazu erzählen?«

»Er heißt Isaac Ramirez, und Ihre Vermutung über seine Lebensumstände waren vollkommen richtig. Seine Familie wurde von der Inquisition terrorisiert, seine Eltern getötet, und er war vor Trauer außer sich. Genau diese Tatsache, dass seine Geschichte der meinen so ähnlich ist, hat mich veranlasst, ihn auf eigenen Wunsch zu unterrichten, und bis jetzt kommen wir gut voran. Sie gaben mir einige wichtige Ratschläge über mein Verhalten ihm gegenüber, die ich nie vergessen habe. Erinnern Sie sich daran?«

»Ich erinnere mich an meine Bitte an Sie, der Polizei nicht zu sagen, wo er sich aufhält.«

»Ja, aber Sie sagten noch etwas anderes. Sie sagten: ›Wählen Sie einen religiösen Weg.‹ Wissen Sie noch? Das hat mich verwirrt.«

»Vielleicht habe ich mich nicht klar ausgedrückt. Ich liebe die Religion, aber ich hasse den Aberglauben.«

Franco nickte. »Ja, so habe ich Sie auch verstanden – dass ich Verständnis, Mitgefühl und Vergebung zeigen soll. Richtig?«

Bento nickte.

»Also gibt es in der Thora auch einen moralischen Verhaltenskodex und nicht nur Geschichten über Wunder.«

»Fraglos ist das so, Franco. Meine Lieblingsgeschichte aus dem Talmud ist die von einem Heiden, der zu Rabbi Hillel kam und sagte, dass er unter der Bedingung Jude werden wolle, dass der Rabbi ihn in der Zeit die ganze Thora lehrt, während er auf einem Fuß steht. Hillel antwortete ihm: ›Was dir zuwider ist, das füge auch deinem Nächsten nicht zu. Das ist die ganze Thora, und alles andere ist nur Kommentar. Und nun geh und studiere sie.‹«

»Sehen Sie, Sie mögen ja doch Geschichten …«

Bento setzte zu einer Antwort an, aber Franco verbesserte sich schnell: »… nun, immerhin eine Geschichte. Geschichten können eine Gedächtnisstütze sein. Für viele viel wirksamer als nackte Geometrie.«

»Ich verstehe, was Sie meinen, Franco, und ich bezweifle nicht, dass Ihr Studium tatsächlich Ihren Geist schärft. Sie verwandeln sich in einen wunderbaren Debattierpartner. Es ist sonnenklar, weshalb Rabbi Mortera Sie ausgewählt hat. Heute Abend werde ich einen Teil meiner Arbeiten mit Kollegianten, das sind Mitglieder eines Philosophie-Clubs, diskutieren, und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass es in diesen Zeiten möglich wäre, Sie dazu einzuladen. Für Ihre Kritik wäre ich viel aufgeschlossener als für die irgendeines anderen Teilnehmers.«

»Es wäre mir eine Ehre, etwas von Ihnen zu lesen. In welcher Sprache schreiben Sie? Mein Holländisch macht Fortschritte.«

»Leider auf Latein. Hoffen wir, dass Latein das Thema Ihrer zweiten Ausbildung sein wird, denn ich bezweifle, dass es jemals eine holländische Übersetzung geben wird.«

»Ich habe die Grundlagen der lateinischen Sprache im Rahmen meiner katholischen Ausbildung gelernt.«

»Sie müssen eine umfassende Ausbildung in Latein anstreben. Rabbi Menasseh und Rabbi Mortera beherrschen Latein sehr gut und könnten es Ihnen ermöglichen. Vielleicht werden sie Sie ja dazu ermutigen.«

»Rabbi Menasseh ist letztes Jahr gestorben, und ich muss leider sagen, dass Rabbi Mortera zusehends gebrechlicher wird.«

»Oh, schlechte Nachrichten. Aber Sie werden andere finden, die Ihnen Mut machen werden. Vielleicht gibt es ja die Möglichkeit für Sie, ein Jahr in der Yeshiva in Venedig zu studieren. Es ist wichtig: Latein eröffnet eine ganz neue …«

Franco stand plötzlich auf und eilte ans Fenster, um den drei Gestalten nachzusehen, die gerade vorübergegangen waren. Er drehte sich wieder um: »Es tut mir leid, Bento, ich dachte, ich hätte jemanden aus unserer Gemeinde gesehen. Ich bin mehr als nur ein wenig nervös, dass mich jemand hier sehen könnte.«

»Ja, zu meiner Frage nach dem Risiko sind wir noch gar nicht gekommen. Sagen Sie mir, wie groß ist Ihr Risiko, Franco?«

Franco neigte den Kopf. »Es ist sehr groß – so groß, dass es das Einzige ist, was ich nicht mit meiner Frau besprechen kann. Ich kann ihr nicht sagen, dass ich alles aufs Spiel setze, was wir uns in dieser neuen Welt so mühevoll aufgebaut haben. Es ist ein Risiko, das ich nur für Sie eingehe und sonst für niemanden auf dieser Welt. Und ich muss mich schon bald verabschieden. Ich habe keinen triftigen Grund, den ich meiner Frau oder den Rabbinern für meine Abwesenheit nennen könnte. Ich überlegte schon, ob ich, wenn mich jemand sähe, lügen und sagen sollte, dass Simon mich wegen eines Unterrichts in Hebräisch angesprochen hätte.«

»Ja, daran dachte ich ebenfalls schon. Aber erwähnen Sie besser nicht Simons Namen. Meine Verbindung zu ihm ist bekannt, zumindest in der nichtjüdischen Welt. Es ist besser, wenn Sie den Namen von jemand anderem nennen könnten, den Sie hier getroffen haben könnten, vielleicht Peter Dyke, der ein Mitglied des Philosophie-Clubs ist.«

Franco seufzte: »Wie traurig, sich in das Land der Lüge begeben zu müssen. Das ist ein Gebiet, das ich seit meinem Verrat an Ihnen nie mehr betreten habe, Bento. Aber bevor ich gehe, erzählen Sie mir bitte noch etwas von Ihren philosophischen Fortschritten. Wenn ich dann Latein lerne, könnte Simon vielleicht Ihr Werk für mich verfügbar machen. Aber für den Augenblick bleibt mir heute nur Ihr gesprochenes Wort. Ihre Gedanken regen mich an. Ich zerbreche mir immer noch den Kopf über Dinge, die Sie zu Jacob und mir gesagt haben.«

Bento hob fragend das Kinn.

»Bei unserem allerersten Treffen sagten Sie, dass Gott perfekt und vollkommen ist, keine Mängel hat und kein Bedürfnis, von uns gepriesen zu werden.«

»Ja, das ist meine Ansicht, und das waren meine Worte.«

»Und dann erinnere ich mich an Ihre folgende Bemerkung zu Jacob – und das war eine Feststellung, für die ich Sie lieben lernte. Sie sagten: ›Bitte gestatten Sie mir, dass ich Gott auf meine Art liebe.‹«

»Ja, und Ihre Verwirrung?«

»Ich weiß, und das verdanke ich Ihnen, dass Gott kein Wesen wie wir ist. Und auch wie kein anderes Wesen. Sie betonten – und das war der Todesstoß für Jacob –, dass Gott Natur sei. Aber sagen Sie mir, lehren Sie mich: Wie können Sie die Natur lieben? Wie können Sie etwas lieben, das kein Wesen hat?«

»Zuerst einmal, Franco, verwende ich den Begriff ›Natur‹ auf eine besondere Art. Ich meine damit nicht die Bäume, die Wälder, das Gras, das Meer oder irgendetwas, das nicht von Menschenhand geschaffen wurde. Ich meine damit alles, was existiert: die absolut notwendige, perfekte Einheit. Mit ›Natur‹ beziehe ich mich auf das, was unendlich, geeint, perfekt, verstandesmäßig und logisch ist. Es ist die immanente Ursache aller Dinge. Und alles, was existiert, arbeitet ausnahmslos nach den Gesetzen der Natur. Wenn ich also über die Liebe zur Natur spreche, meine ich nicht die Liebe, die Sie für Ihre Frau oder für Ihr Kind empfinden. Ich spreche von einer anderen Art von Liebe, einer intellektuellen Liebe. Auf Latein nenne ich es Amor dei intellectualis.«

»Eine intellektuelle Liebe zu Gott?«

»Ja, die Liebe des möglichst vollkommenen Verständnisses für die Natur oder Gott. Das Begreifen des Platzes, den jedes endliche Ding in seiner Beziehung zu endlichen Ursachen einnimmt. Insofern das überhaupt möglich ist, ist es das Verständnis der universellen Gesetze der Natur.«

»Wenn Sie also davon sprechen, Gott zu lieben, meinen Sie damit das Verständnis für die Gesetze der Natur.«

»Ja, die Gesetze der Natur sind nur ein weiterer, eher der Vernunft entsprechender Name für die ewigen Gebote Gottes.«

»Diese Liebe unterscheidet sich also von der gewöhnlichen, menschlichen Liebe dadurch, dass sie sich nur auf ein Wesen bezieht.«

»Genau. Und die Liebe zu etwas, was unveränderlich und ewig ist, bedeutet, dass man nicht der Gemütsverfassung, der Wankelmütigkeit oder Endlichkeit des geliebten Wesens ausgeliefert ist. Es bedeutet auch, dass wir nicht versuchen, uns selbst in einer anderen Person zu vervollkommnen.«

»Bento, wenn ich Sie richtig verstehe, muss das auch heißen, dass wir keine Gegenliebe erwarten dürfen.«

»Wieder genau richtig. Wir können nichts zurückerwarten. Wir beziehen eine freudige Ehrfurcht aus einem flüchtigen Blick, ein privilegiertes Verstehen des unermesslichen, unendlich komplexen Systems der Natur.«

»Eine weitere Lebensaufgabe?«

»Ja, Gott oder die Natur besitzt eine unendliche Anzahl von Attributen, die sich meinem vollständigen Verstehen immer entziehen werden. Aber mein begrenztes Verständnis führt jetzt schon zu großer Ehrfurcht und Freude, zuweilen sogar ekstatischer Freude.«

»Eine seltsame Religion, wenn man das überhaupt Religion nennen kann.« Franco stand auf. »Ich muss Sie verlassen, obwohl ich immer noch verblüfft bin. Aber eine letzte Frage: Ich frage mich, vergöttern Sie die Natur oder naturalisieren Sie Gott?«

»Schönes Wortspiel, Franco. Ich brauche Zeit, viel Zeit, um meine Antwort auf diese Frage zu finden.«





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